Wintermord
nickte.
»Zeichne über die Ferien weiter. Wahrscheinlich glaubst du, dass ich das zu allen sage, aber das stimmt nicht.«
Verlegen balancierte My ein Stückchen Katzengold auf ihrem nackten Fuß. Sie hatte ihre Arbeiten immer wieder in sein Fach im Lehrerzimmer legen lassen, weil sie zu schüchtern war, sie ihm persönlich zu zeigen. Meistens waren es schnell hingeworfene Bleistiftzeichnungen von Menschen in Bewegung.
Sie hatte auch versucht, in Öl zu malen. Das Resultat waren Bilder mit dicken Farbschichten und unregelmäßiger Oberfläche. Es gefiel ihr, dass sie wusste, was für Schichten sich darunter verbargen.
Caroline posierte für sie und würde nie erfahren, was unter der Oberfläche steckte. Das gefiel My mittlerweile auch. Aber die schnellen Skizzen gaben ihr am meisten Energie. Diese Zeichnungen fertigte sie, während sie unruhig auf etwas anderes wartete, und sie konzentrierte sich mehr auf die Bewegungen und Absichten der Menschen als auf das Zeichnen. So konnte sie sich über das Resultat wundern. Was und wer sich aus diesem Durcheinander scheinbar bedeutungsloser Geschehnisse herausschälte.
Das Auto ihres Lehrers war das Letzte, das davonrollte. My hatte sich danach gesehnt, allein mit Caroline zu bleiben und gehofft, dass die gemeinsame Zeit das Schweigen zwischen ihnen heilen könnte. Stattdessen bekam sie nun Todesangst.
Erst vor ein paar Tagen waren die meisten Schüler in die Sommerferien aufgebrochen, aber die Leere hatte sich schon in den Mauern festgesetzt.
Sie hatte sich daran gewöhnt, dass Caroline ihre Treue auf die Probe stellte, die Liebe an Bedingungen knüpfte, portionsweise gewährte und ständig Beweise forderte. Obwohl ihr durchaus klar war, wie destruktiv es war, aus der Liebe einen Machtkampf zu machen, kam ihr diese Art von Beziehung vertraut vor. Ihre Mutter hatte die Menschen in ihrer Umgebung mit ihren Spielchen von Nähe und Distanz manipuliert – einerseits hatte sie Angst, vereinnahmt zu werden, andererseits fürchtete sie sich vor der Einsamkeit. Und das war für My so vertraut, dass sie sich darin geborgen fühlte.
25
2006
Er spürte einen Stich seines schlechten Gewissens – ein Gefühl, das ihm nur zu gut bekannt war. Sie hatte nichts dazu gesagt, dass er sich für die traditionelle Weihnachtsfeier im Büro anzog.
Nicht, dass Seja einen Anspruch darauf gehabt hätte, ihn zu begleiten. Trotzdem hatte Tell zum ersten Mal seit langem Lust – vielleicht zum ersten Mal überhaupt –, den Verlauf dieser Geschichte zu forcieren. Er wollte sie auf diese lächerliche Feier mitnehmen.
Während er sich rasierte, malte er sich aus, wie er sie Ann-Christine Östergren vorstellte. Ihm war völlig klar, wie seine Verfehlung die Beziehung zu Seja beeinflussen würde: Sie wäre seine heimliche Geliebte.
Den Gedanken an die Möglichkeit, sich erst nach Abschluss des Falles weiter mit ihr zu treffen, schob er beiseite. Darum ging es jetzt nicht. Es ging darum, dass er seiner direkten Vorgesetzten ins Gesicht gelogen hatte. Und um seinen Mangel an Selbstdisziplin: Er hätte schließlich warten können, bis der Fall abgeschlossen war.
In diese Gründe für sein schlechtes Gewissen mischte sich noch ein undefinierbares Gefühl: Solange er zurückdenken konnte, waren seine Beziehungen zu Frauen von Schuldgefühlen geprägt. Sein schlechtes Gewissen wurde von den Klagen der Frauen genährt, die ihn als emotional unzugänglich bezeichneten. Und seine Frustration über diese Klagen machte ihn noch verschlossener.
In all seinen längeren Beziehungen war er sich seiner falschen Prioritäten sehr wohl bewusst gewesen. Ebenso seiner Tendenz, sich in seiner Arbeit zu vergraben, um sich nicht zu öffnen und verletzbar zu machen. Eine erfolgreiche Liebesbeziehung gehörte nicht zu seinem Selbstbild. Vertrauen auch nicht. Vielleicht hätte er sich tatsächlich mal auf die Couch legen sollen, aber er tat es nie. So oder so ging das Leben seinen gewohnten Gang, egal, wie viele Menschen man auf seinem Weg verletzte.
»Wenn du willst, warte auf mich. Oder ich geb dir den Ersatzschlüssel. Dann kannst du ihn in den Briefkasten werfen, wenn du doch lieber nach Hause fahren möchtest.«
»Wenn ich nicht nach Hause fahre, bin ich noch hier, wenn du zurückkommst.«
Sie lehnte sich an den Türrahmen.
»Ich wünsche mir wirklich, dass du noch hier bist, wenn ich komme«, sagte er aufrichtig und sah sie im Spiegel an, während er sich den Schlips band.
Sie schlang ihm die Arme um die
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