Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wintermord

Wintermord

Titel: Wintermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Ceder
Vom Netzwerk:
35 sollte Mys Zug am Hauptbahnhof ankommen. Aber Solveig brachte es nicht fertig, sie am Bahnsteig abzuholen. Nicht heute.
    Nach Mys Auszug hatte Solveig es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Tag in das Mädchenzimmer ihrer Tochter zu gehen. Dort setzte sie sich auf die Bettkante, betrachtete die Poster oder rauchte am offenen Fenster eine Zigarette.
    Es fiel ihr schwer, sich an die neuen Verhältnisse zu gewöhnen: die begrenzte Wohnfläche, aber auch die fehlenden Anzeichen, dass jemals ein Mädchen bei ihr gewohnt hatte – Mys Sachen hatte sie auf den Dachboden bringen müssen. Nur in einer Schublade im Sekretär bewahrte sie ein paar Zeichnungen auf, ein paar Bücher, die ihre Tochter als Kind sehr gemocht hatte, und ausrangierte Schmuck- und Kleidungsstücke. Solveig öffnete diese Schublade nur selten, um in Mys Skizzenblock zu blättern und an dem Kleid zu schnuppern, das ihre Tochter bei einem Abschlussball getragen hatte. Obwohl sie nicht selten mit My telefonierte, kam es ihr manchmal so vor, als wäre ihre Tochter wirklich verschwunden. Nicht bloß zu Hause ausgezogen, sondern tot.
    Als My zum ersten Mal verkündete, dass sie ausziehen werde, war sie gerade mal fünfzehn. Natürlich hatte sie weder Wohnung noch Einkommen, aber sie erklärte, sie könne bei einem Freund in der Stadt unterkommen.
    Bei diesen Worten hätte sich Solveig am liebsten auf dieses widerspenstige Kind gestürzt, um es festzuhalten. Stattdessen schluckte sie und saß schweigend im Schlafzimmer, während My ihre Siebensachen packte. Die Winnie-Puuh-Reisetasche aus Kindertagen war groß genug. In der Nacht stand die Tasche im dunklen Flur und strahlte die Bösartigkeit aus, mit der My sich gegen den Schmerz ihrer Mutter panzerte.
    Solveig konnte sich gut erinnern, wie sie im Morgengrauen aufgestanden war, um den Schlüssel zum Kinderzimmer herauszusuchen. Sie hatte ihn versteckt, als die Kinder noch klein waren, weil sie befürchtete, sie könnten sich versehentlich einschließen. Erst hatte sie ein bisschen mit dem alten Schloss zu kämpfen und befürchtete schon, My würde davon aufwachen. Eine ganze Weile blieb sie noch stehen und lauschte an der Tür. Als sie die friedlichen Atemzüge ihrer Tochter hörte, mit dem charakteristischen leisen Pfeifen, das von ihrer verengten Nase herrührte, beruhigte sie sich.
    Dann schlich sie zum Sofa und rollte sich in einer Ecke zusammen. Der Mond fiel durch die Lamellen der Jalousie und bildete ein Streifenmuster auf ihrem Morgenmantel. Sie fühlte sich richtig befreit. Als das Rasseln vom Wecker ihres Nachbarn durch die Gipswand drang, stand sie auf, schlich zu Mys Zimmer und schloss wieder auf.
    Obwohl ihr am nächsten Tag das monotone Pfeifen ihres Tinnitus fast den Schädel sprengte, schenkte ihr die Erinnerung an diese Nacht ein Gefühl von Kontrolle, das ihr durch die folgenden einsamen Wochen half. Sie redete sich ein, der einzige Grund für den Auszug ihrer Tochter sei der, dass sie ihr einen Moment die Freiheit gewährt hatte, ihre zarten Flügel zu erproben. Aber sie würde zurückkommen, und dann war Solveig da, um sie zu trösten. Sie wollte My zeigen, dass sie sie verstand. Sie wusste, wie schrecklich die Welt da draußen war, ja, Solveig selbst hatte die Grausamkeit dieser Welt früh erfahren müssen.
    My sollte niemals allein sein. Solveig war immer noch so fest entschlossen wie damals, als sie um Mitternacht zum ersten Mal das Neugeborene im Arm hielt. Niemals würde sie ihre Tochter im Stich lassen.
    Das Mädchen schenkte ihrem Herzen genauso viel Wärme wie Schmerzen. Zum ersten Mal erlebte Solveig ihren ganzen Wert als Mensch, war stolz, jemand zu sein: Wenn sie sonst nichts war, war sie immerhin Mys Mutter. Und als die Hebamme ihr das Baby an die Brust legte und Solveig, erschöpft von der langwierigen Entbindung, auf das runzlige Gesicht herabblickte, brach sie zusammen unter dem überwältigend starken Gefühl von Liebe und dem unerbittlichen Anspruch, der sich daraus ergab. Der herbeigerufene Arzt gab ihr so viel Beruhigungsmittel, dass My in den ersten Tagen mit der Flasche ernährt werden musste. Als ein paar Jahre später Sebbe kam, war Solveig besser vorbereitet.
    Ihr Sohn war ein kleiner Trost in Mys Abwesenheit. Sie standen sich durchaus nahe. Aber mit einem Mädchen, mit ihrer Erstgeborenen, war es eben doch anders. In Mys Gesicht hatte sie immer sich selbst sehen können.
    Nach Mys erstem Versuch, zu Hause auszuziehen, hatten Mutter und Tochter dieses Trauma immer

Weitere Kostenlose Bücher