Wintermord
und immer wieder durchlebt. Und bei jedem Mal war der Schmerz leichter zu ertragen. Wahrscheinlich sollte es so sein. My wohnte ein paar Wochen irgendwo, überwarf sich mit jemand und bezog wieder ihr Kinderzimmer. My lernte einen Jungen kennen, der eine eigene Wohnung hatte, blieb bei ihm, bis die Beziehung in die Brüche ging, und kehrte in Tränen aufgelöst zu Solveig zurück.
Sie kam immer wieder zurück, und nur deswegen ertrug Solveig die ständigen Trennungen. Sie biss die Zähne zusammen und ließ ihr Leben mit Sebbe seinen gewohnten Gang gehen, während sie auf den Tag wartete, an dem My wieder auf der Schwelle stand.
Am Abend bevor My den Zug zur Heimvolkshochschule nahm, hatten sie sich wieder so heftig gestritten, dass die Nachbarn an die Wände hämmerten. Obwohl My in ihren Briefen die schlimmsten Gemeinheiten wiedergutzumachen versuchte, hatten sich ihre Äußerungen in Solveigs Gedächtnis eingegraben. Diese abgrundtiefe Demütigung würde sie niemals verwinden.
Wenn sie ganz ehrlich war, hatte der Wohnungstausch nicht nur praktische Gründe gehabt. Eine Art irrationale Rachsucht trieb sie dazu, so rasch wie möglich eine Veränderung herbeizuführen. Sie war getroffen bis ins Mark, aber wenn ihre Tochter es denn so unerträglich fand, bei diesem egozentrischen, kranken, anspruchsvollen Parasiten von Mutter zu leben – du bist wie eine stinkende nasse Decke, unter der ich fast ersticke –, dann wollte Solveig jetzt dafür sorgen, dass sie ihren Schritt nicht mehr rückgängig machen konnte.
Mit der Zeit verrauchte zwar Solveigs Wut, aber der Kummer über die harten Worte blieb.
Diesmal kam My jedoch nicht mit ihrer Schmutzwäsche unterm Arm nach Hause. Sie war endgültig ausgezogen, und als sie in die kleine Dreizimmerwohnung mit dem Ausziehsofa kam, war sie bei Solveig und Sebbe eben nur zu Gast.
Es war nicht schlecht. In vieler Hinsicht hatten sich die Dinge verändert, als sie Rydboholm verließen und nach Norrby zogen. Alles war stabiler. Zumindest vorübergehend verstummte der monotone Ton in ihren Ohren, was bedeutete, dass Solveig nicht mehr so viele Schlaftabletten nehmen musste.
Sebastian war in dem Alter, in dem man sich immer mehr nach außen orientiert: Er war dreizehn und fing an, seine Freunde mit nach Hause zu bringen. Dann spielten sie ihre Musik in ohrenbetäubender Lautstärke, und Solveig fühlte sich nicht mehr so verlassen.
Sie tröstete sich damit, dass es ja gut war, wenn er endlich Freunde fand. Sie bliebe ja die wichtigste Person in seinem Leben. Wenn die Experten recht hatten, würde er sich später sogar eine Lebensgefährtin suchen, die ihr ähnlich sah. Als Erwachsener wäre er endlich einsichtig genug – wären beide Kinder einsichtig genug –, um zu schätzen, wie sie sich für sie verausgabt hatte.
»Mama?«
Solveig drehte sich in Zeitlupentempo zur Tür. Sie brauchte immer etwas länger, um sich nach einem einsamen Moment wieder auf den Umgang mit einem anderen Menschen einzustellen. Manchmal schien es ihr, als würde es jedes Jahr schlimmer.
»Mama.«
Sebastian hatte schon wieder diesen Gesichtsausdruck, den sie so hasste. Als bildete er sich ein, er wüsste ein Geheimnis über seine Mutter, die nicht nur dreimal so lange auf der Welt war, sondern ihn auch ausgetragen und geboren hatte. Wie konnte er sich anmaßen, sich Sorgen um sie zu machen?
Solveig verabscheute diese falsche Besorgnis, die sie schon so oft erlebt hatte. Als Kind hatte sie sie im Blick des Sozialarbeiters bemerkt und bei ihren Pflegeeltern. Als Erwachsene in den schnellen Bewegungen der Ärzte, mit denen sie ihre Krankenakte durchblätterten. Bei der Krankenversicherung, den Vorschullehrern, den Klassenlehrerinnen, den Eltern der Spielkameraden ihrer Kinder.
Wir machen uns Sorgen um dich, Solveig. Wir fragen uns, ob du allein zurechtkommst . Im Klartext: Wir halten dich für wertlos und mies. Aber hatte sie ihnen denn nicht gezeigt, dass sie zurechtkam? Dass sie nicht nur zurechtkam, sondern ihren Kindern auch eine großartige Mutter war?
»Mama.«
»Ja!«
Ihre Stimme klang schärfer als beabsichtigt. Ich muss mich konzentrieren . Die Gedanken entschwebten ihr neuerdings so leicht.
»Was willst du denn?«, fügte sie etwas sanfter hinzu, aber das Gesicht des Jungen war schon verschlossen.
»Ich wollte bloß wissen, ob du Zigaretten für mich gekauft hast. Du hast gesagt, du bringst welche mit, und ich hab Krille versprochen, dass er welche von mir abkriegt.«
In ihrem Kopf
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