Wintermord
ich mit Eva Abrahamsson gesprochen habe, der Leiterin des Sozialamts, werde ich persönlich dafür sorgen, dass Ihnen die Unterlagen zur Verfügung gestellt werden. Wenn sie noch da sind, heißt das. Es ist leider sehr wahrscheinlich, dass die Dokumente, nach denen Sie suchen, vernichtet worden sind. Wir sprechen hier ja von vierzig Jahre alten Akten.«
Die Vibrationen ihres Handys breiteten sich über ihren Schreibtisch aus. Sie faltete die Hände, um nicht gegen ihren Willen nach dem Telefon zu greifen. »Tut mir leid, dass Sie umsonst warten mussten.«
»Das reicht mir nicht«, erklärte Tell. »Man hat mir mitgeteilt, dass die Akten, die ich brauche, zu dem einen Prozent gehören, das für Forschungszwecke aufgehoben wird, und man hat mir versprochen, dass ich im Rahmen meiner Ermittlungen Einsicht nehmen darf. Ich habe sämtliche erforderlichen Papiere und Genehmigungen.«
Erneut vibrierte Sundins Handy, und diesmal erlaubte sie sich einen verstohlenen Blick aufs Display. Zu Tells großem Erstaunen besaß sie den Nerv, das Gespräch doch anzunehmen. Sie drehte sich auf ihrem Schreibtischstuhl von ihm weg und brachte das einsilbige Gespräch rasch zu Ende. »Ja, das war Eva. Sie hat die Akten rausgesucht. Als Sie nicht zur verabredeten Zeit auftauchten, hat sie sie in ihren Aktenschrank gelegt.«
Sie legte eine Kunstpause ein, um sicherzugehen, dass Tell die kleine Spitze verstanden hatte.
Hatte er.
»Bitte, sprechen Sie doch weiter, Frau Sundin.«
»Eva Abrahamssons Sekretärin wird Ihnen aufschließen.«
Als Tell aufstand, stellte er fest, dass das Gespräch mit Birgitta Sundin genau fünf Minuten gedauert hatte. »Gut, war das alles? Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Er konnte sich die Ironie einfach nicht verkneifen.
Im ersten Moment war sie sichtlich gereizt und strich sich die Haare hinters Ohr, aber dann entspannte sie sich. Oder, wie Tell es später Karlberg gegenüber formulierte: »Da hat sie endlich mal den Stöpsel aus dem Arsch gezogen.«
Sie seufzte und lehnte sich leicht vor. »Entschuldigen Sie, ich habe Ihren Namen nicht ganz ...«
»Christian Tell, Kriminalkommissar.«
»Kriminalkommissar Tell. Es ist nicht so, dass ich nicht begreifen würde, wie wichtig es für Sie ist, Einblick in diese Akten zu bekommen. Aber man hat mich vorhin erst mit dieser Sache überrumpelt, und Sie müssen verstehen, dass ich einen Dienstfehler begangen hätte, wenn ich nicht sichergestellt hätte, dass alles seine Ordnung hat.«
Ohne eine Antwort streckte er ihr die Hand hin, aber sie ergriff sie nicht. »Nehmen Sie doch bitte noch mal kurz Platz«, bat sie. »Ich glaube, ich könnte Ihnen in einer Sache weiterhelfen. Sozusagen als Ausgleich für unser anfängliches Missverständnis.«
»Und was sollte das sein?«
Sie schien einen Entschluss gefasst zu haben. »Wie ich gehört habe, betreffen die Akten, für die Sie sich interessieren, die Familie Pilgren. Die Kinder Susanne und Olof. Ich gehe nächstes Jahr in Pension. Es kommt mir vor, als hätte ich hier eine halbe Ewigkeit gearbeitet, erst im Bereich Sozialhilfe, dann als Sozialarbeiterin mit Erwachsenen, mit Jugendlichen, mit Familien mit Kindern, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ... Worauf ich hinaus will: Ich kenne diese Familie ziemlich gut, oder vielleicht sollte ich sagen, ich kannte sie gut, das ist ja jetzt alles schon Jahre her. Ich war damals die betreuende Sozialarbeiterin.«
Sie verstummte und blickte aus dem Fenster. »Man erinnert sich nicht an alle Kinder oder Familien, mit denen man zu tun hatte«, fuhr sie schließlich fort, »aber zufällig erinnere ich mich an diese Familie äußerst gut. Vielleicht, weil das einer meiner ersten Fälle war.«
Tell nickte, und vor seinem inneren Auge tauchte das Bild von Lisa Jönssons roten Flechtzöpfen auf. Er verstand Frau Sundin sehr gut.
»Als ich die Familie das erste Mal zu Hause besuchte, war Olof noch nicht geboren und Sussie war drei oder vier«, begann Birgitta Sundin, nachdem sie die Akten aus Eva Abrahamssons Aktenschrank geholt hatte. »Sie waren erst kurz zuvor hierher gezogen. Ursprünglich kamen sie irgendwo aus dem Norden und waren in der Gegend um Stockholm schon mehrfach umgezogen. Dann landeten sie in Göteborg, nachdem sie Stockholm mitten in einer Untersuchung Hals über Kopf ...«
»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche – was für eine Untersuchung?«
»Es ist die Pflicht des Sozialamts, dafür zu sorgen, dass Kinder und Jugendliche in sicheren und geordneten
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