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Wintermord

Wintermord

Titel: Wintermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Ceder
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überschnitt, bot ihm die Sekretärin an, ersatzweise die Abteilungsleiterin des Jugendamts zu holen.
    »Die kann Ihnen sicher weiterhelfen, Sie suchen ja Akten, die mit Kinderbetreuung zusammenhängen. Aber ich glaube, die ist heute Vormittag im Landtag.«
    Während er im Vorzimmer wartete, wanderten seine Gedanken zu Seja und der gemeinsam verbrachten Silvesternacht – diese Nacht und dieser Morgen waren in jeder Hinsicht perfekt gewesen. Gleichzeitig hatten sich beide gewünscht, die Dinge könnten etwas einfacher sein.
    Als sich herausstellte, dass die Abteilungsleiterin des Jugendamts erst nach der Mittagspause zurückkommen würde, verließ Tell zähneknirschend das Gebäude, um auf dem Platz im Stadtzentrum von Angered bummeln zu gehen.
    Die Obdachlosen vor dem Spirituosengeschäft unterhielten sich lautstark. Eines der Gesichter sprang ihm ins Auge: Lisa.
    Lisa Jönsson kannte er, seit er als Streifenpolizist angefangen hatte und sie noch eine schmächtige, hohläugige und vorlaute Jugendliche war. Später war er bei der Sitte und begegnete ihr wieder, weil sie auf die Straße ging, um ihre Heroinsucht zu finanzieren. Dann vergingen einige Jahre, bis er sie zum letzten Mal zu Gesicht bekam: grün und blau geschlagen.
    Sie wollte ihren Freund wegen Körperverletzung anzeigen. Ob sie es auch wirklich getan hatte, wusste er nicht, weil es nicht mehr in seinen Zuständigkeitsbereich fiel. Die Hundejahre als Streifenpolizist hatte er ein für alle Mal hinter sich gelassen.
    Wenn er hätte raten sollen, hätte er darauf getippt, dass sie schon tot war. Normalerweise wurden diese Mädchen nicht alt. Da gab es Typen, die hatten kaum noch einen Zahn im Mund und prügelten ihre Freundinnen, weil das die einzige Möglichkeit war, sich zumindest vorübergehend das Gefühl zu verschaffen, die Dinge unter Kontrolle zu haben. Und dann gab es Typen, die eine Liga höher spielten, die kauften und verkauften und die Verantwortung an Unterhändler delegierten. Rule by fear hieß ihre Devise. In ihrer Umgebung gab es auch Mädchen, die in den Händen labiler Psychopathen lebten, in einer Welt, in der ein einziger Fehler das Leben kosten konnte.
    Lisa hatte sich rote Bänder ins Haar flechten lassen, die ihr bis auf die knabenhaften Hüften baumelten. Wenn man sie von hinten sah, hätte man sie mit einer Dreizehnjährigen verwechseln können.
    Als sie sich umdrehte, fuhr Tell erschüttert zusammen. Er staunte, wie die Vergangenheit einen Mann einholen kann, wenn er am wenigsten damit rechnet, und wie ein Mann, der seit zwanzig Jahren im Polizeidienst steht, immer noch erschrecken kann, wenn ihm die Verletzlichkeit des Menschen vor Augen geführt wird.
    Er erwog kurz, ob er zu ihr gehen sollte, überlegte es sich aber anders. Vielleicht, weil sie einen Kampfhund bei sich hatte, der nervös an der Leine zerrte, oder weil die Typen um sie herum so laut waren.
    Außerdem war er nicht so sentimental, zu glauben, dass sie ihn wiedererkannte. Im Laufe der Jahre hatte sie Hunderte von Polizisten getroffen. Zwar hatte er auch Hunderte von Huren getroffen, aber zufällig war sie ihm eben im Gedächtnis geblieben. Vielleicht, weil er damals noch so jung war und sich einbildete, irgendwie doch helfen zu können.
    »Was glotzt du denn so?«, schrie einer von den Typen. Er machte ein paar taumelnde Schritte auf Tell zu und schüttelte drohend die Faust.
    Eine Sekunde blickte Lisa Jönsson ihm direkt in die Augen. Er glaubte ein Zucken in ihrem Gesicht zu bemerken, bevor sie rasch den Blick senkte. Wahrscheinlich erkannte sie in ihm einfach einen Polizisten, wie sie jeden auf einen Kilometer Entfernung identifizieren konnte. Vielleicht senkte Lisa Jönsson den Blick auch nur aus alter Gewohnheit.
    Mit einer halben Stunde Verspätung kam schließlich die Abteilungsleiterin des Jugendamts, Birgitta Sundin, mit schnellen Schritten in ihr Büro. Tell saß bereits auf einem roten Stuhl neben dem Besprechungstisch.
    Frau Sundin war eine ältere Dame mit Brille und grauem Pagenkopf. Um die Schultern hatte sie einen phantasievoll gemusterten Schal drapiert, der einen Kontrast zu ihrer eher strengen Kleidung bildete. »Man hat mich informiert, in welcher Angelegenheit Sie hier sind, aber ich weiß nicht gut genug Bescheid, um Ihnen sofort Auskünfte erteilen zu können«, eröffnete sie mit einer Stimme, die ihre Anspannung verriet.
    Tell spürte, wie der Zorn in ihm aufwallte, aber bevor er etwas sagen konnte, sprach sie hastig weiter: »Aber sobald

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