Winternacht
überwacht werden. Wollten wir ihn nicht ins Sommerreich bringen?« Chatter sah zu Wrath hinüber, und von dem verängstigten Feenmann, den ich bei meiner Rückkehr nach New Forest angetroffen hatte, war nichts mehr zu sehen. Er war stark, und er wirkte fast majestätisch.
Wrath stieß den Atem aus. »Also gut, es ist wohl an der Zeit. Allerdings bin ich mir nicht sicher, was Lainule dazu sagen wird.«
»Ich sage, erzähl es ihnen.« Lainules Stimme hallte durch den Raum. »Wenn wir Myst heute noch aufstöbern wollen, sollten wir wirklich ein paar Dinge klären, und dazu ist es wichtig, dass ihr nicht nur eure Vergangenheit kennt, sondern auch eure Zukunft.« Lainule schob Ysandra aus dem Weg und betrat mit acht Kriegern den Raum. »Ich habe eine Armee mitgebracht – sie wartet draußen –, außerdem Heiler. Wir werden heute unser Land zurückerobern.«
Heiler . Flehend sah ich sie an. »Bitte – könnt Ihr Grieve helfen?«
Lainule winkte einer Frau, die nun den Raum betrat. »Kümmere dich um ihn.«
Die Frau war eine Cambyra-Fee, und sie glitt über den Boden wie ein nichtstoffliches Wesen. Sie trat zu Grieve, scheuchte uns anderen fort, fühlte erst Grieves Puls und strich ihm dann das Haar zurück, um ihm eine Hand auf die Stirn zu legen.
Einen Moment später begann sie zu summen, und Luna trat vor, als hätte das Lied sie gerufen. Die Heilerin blickte auf und nickte ihr zu, und Luna kniete sich neben sie und fing an, ihre Stimme an die der Heilerin anzupassen. Während sie im Gleichklang arbeiteten, machte die Heilerin eine Handbewegung zu Zoey, und Lunas Schwester begann in einem trägen Rhythmus zu trommeln. Dann stimmten Luna und die Heilerin an:
Ich rufe die Seele aus ewiger Nacht,
ich rufe die Seele zu mir.
Ich rufe die Seele aus eigner Kraft,
finde zurück zu dir.
Du bist allein im Sternenlicht,
du bist allein und weit fort,
komm, Prinzgemahl, und zögere nicht,
wende dich ab von jenem Ort.
Als ihre Stimmen sich zu einem Flüstern senkten, begannen Grieves Lider zu flattern, und er stöhnte, doch es klang nicht nach Schmerz, und mein Wolf begann sich zu regen. Ich legte mir die Hand auf den Bauch, als er sich aufzusetzen versuchte, aber noch immer spürte ich keinen Schmerz, nur Freude, wieder bei Bewusstsein zu sein, und eine Freiheit, wie ich sie noch nie zuvor empfunden hatte.
Die Heilerin und Luna halfen ihm in eine sitzende Position und hielten ihn fest, als er sich verwirrt einen kurzen Moment wehrte, doch dann verharrte er und holte tief Luft.
»Grieve?« Ich näherte mich ihm behutsam, um ihn nicht zu erschrecken.
Er blickte zu mir auf. Noch immer waren die Sterne in seinen Augen zu sehen, aber sie hatten sich verändert; sie ängstigten mich nicht mehr, sondern waren wunderschön in ihrem Funkeln. Das Ungezähmte, Raubtierhafte, das ich in ihm gespürt hatte, als ich ihn bei meiner Rückkehr getroffen hatte, war fort. Er war vielleicht immer noch vom Indigo-Hof, aber er war auch wieder mein Grieve, und er lächelte, als er mich entdeckte, und streckte die Hand nach mir aus.
»Cicely, meine wunderschöne Cicely …« Seine Stimme brach, und er setzte sich etwas gerader auf. »Ich bin so weit zu dir zurückgekommen, wie es möglich ist. Myst hat keine Macht mehr über mich.«
»O Grieve. Mein Grieve!« Ich zog ihn in die Arme, küsste seine Wangen, seine Stirn, seine Lippen. »Mein Geliebter. Du bist frei.«
»Ich werde wohl immer zum Indigo-Hof gehören, aber ich bin frei von dem Zwang zu jagen. Und ich werde wohl auch immer mit dem gefährlichen Tier in mir kämpfen müssen, aber ich denke, nun kann ich es leichter in Schach halten.« Er mühte sich auf die Füße. »Ich fühle mich sowohl schwächer als auch stärker.«
»Die grausame Seite deines Wesens hat deine Kräfte gespeist, Prinz. Aber du wirst wieder erstarken, wenn du dich mit deinem neuen Ich angefreundet hast.« Lainule winkte Wrath, der sich zu ihr gesellte. Sie wandte sich an mich und Rhiannon. »Nun werden wir euch sagen, was ihr wissen wolltet. Aber lasst euch warnen: Ihr seid nicht darauf vorbereitet.«
Ich nickte. Solange Grieve an meiner Seite war, konnte ich jede Neuigkeit verdauen. Rhiannon stellte sich neben mich, und wir nahmen uns unwillkürlich an die Hand.
»Wir sind bereit«, sagte sie. »Ich will wissen, wer mein Vater ist. Trage auch ich Wraths Blut in mir? Bin ich zum Teil Fee?«
Lainule sah zu Wrath, der tief seufzte.
»Nein, du bist nicht meine Tochter«, sagte er.
»Wessen dann?« Rhia
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