Winternacht
Gänge würden wir uns nicht mehr zurechtfinden. Grieve dagegen wusste genau wie Wrath und Lainule, wohin wir gingen. Und während wir uns immer tiefer in den Berg hineinbewegten, huschten die Krieger immer wieder in die Kammern rechts und links von den Gängen, und wir hörten erstickte Schreie, wenn sie den Schattenjägern, die noch schliefen, die Kehlen durchschnitten.
Und dann standen wir vor einer großen Tür, und Lainule stieß ein freudloses Lachen aus. »Einst war die große Halle meines Hauses getränkt von Blut, und das wird sie heute wieder sein.« Kraftvoll stieß sie die Tür auf.
Und dort stand ein Rudel Schattenjäger wie eine lebende Barriere vor Myst und wartete auf uns. Mysts Gesicht war schmerzverzerrt, und sie brüllte Befehle, aber ich konnte nicht hören, was sie sagte. Der Windschatten war hier drin nicht zu gebrauchen, und die Schmerzensschreie der Lichtraserei prallten von den Wänden der Halle ab wie Querschläger.
Alles verschwamm in Blut und blitzenden Klingen. Ich fand mich plötzlich vor einer Vampirfee wieder, konnte jedoch nur einem Hieb ausweichen, als schon ein Cambyra-Krieger erschien, mich aus dem Weg schubste und sich auf den Schattenjäger warf. Als ich zurücktaumelte, erhaschte ich einen Blick auf Myst, die sich auf eine Tür im hinteren Bereich der Halle zubewegte. Ich duckte mich, zwängte mich durch die kämpfenden Leiber, wich reißenden Zähnen und spritzendem Blut aus und erreichte die Tür, die ich eben gesehen hatte.
Ich spähte in den Gang und konnte sie in der Ferne sehen. Sie hatte zwei Wachen dabei. Und plötzlich waren Grieve und Kaylin bei mir, und gemeinsam rannten wir los. Myst würde uns nicht entwischen; wir durften Lainule nicht enttäuschen.
Auf das Geräusch von Schritten hinter uns warf ich einen Blick über die Schulter. Luna, Rhia und Chatter hatten gemerkt, was wir vorhatten, und waren uns gefolgt. Und so stürmten wir eine halbe Ewigkeit durch die Gänge, und als wir schon glaubten, sie endlich eingeholt zu haben, öffnete Myst eine weitere Tür und verschwand hindurch, und wir sahen Tageslicht von draußen hineinscheinen.
Einen Moment später barsten auch wir durch die Tür. Sofort verteilten wir uns, um Myst einzukreisen. Die Schattenjäger begannen sich zu verwandeln, und ich tat das Einzige, was mir zur Rettung einfiel: Ich rief den Wind an.
Ulean war bei mir. Ruf den Hurrikan – es wird sie von den Füßen reißen.
Ich hob meine Hände zum Himmel und ließ den Wind durch mich hindurchströmen. Die tobenden Wirbel zerrten an mir, und ich warf den Kopf zurück und lachte.
»Versucht gar nicht erst wegzurennen. Meinen Sturm überlebt ihr nicht.« Ich drehte mich zu Myst um. »Ergib dich, und wir machen es dir leichter.«
Sie legte den Kopf schief. Ihr Gesicht war noch immer schmerzverzerrt. »Glaubst du wirklich, dass ich mich ergebe? Vergiss es! Ich habe keinerlei Absicht, mich von euch töten zu lassen!« Noch während sie sprach, wuchs sie, streckte sich, erhob sich höher und höher, bis sie über die Bäume hinausragte und ein bläulicher Schimmer sie einhüllte.
Ich reichte hinaus, packte den Wind und schickte die Wirbel voraus, während ich mich vorwärtsbewegte. Der Sturm schüttelte die Bäume, und in meinem Zorn riss ich einen kleinen aus, schleuderte ihn auf die Schattenjäger und landete einen Volltreffer. Der eine ging zu Boden, der andere wich winselnd zurück.
Myst zischte und streckte einen langen, dünnen Arm nach mir aus. » Ich bin die Königin des Winters, mein Kind, nicht du! Du wirst mich nicht stürzen, mein verlorenes Töchterchen. Noch sind wir nicht fertig miteinander.« Der Schnee fiel plötzlich stärker und viel dichter, und einen Moment später konnten wir kaum noch etwas sehen. Der Wirbelsturm zog die Flocken an, blendete uns und hüllte die Welt in ein zorniges Weiß.
Cicely, lass den Hurrikan los. Myst kann einen Schneesturm überstehen, und ihre Kräfte übersteigen deine, auch wenn du bald die Winterkönigin wirst.
Ich wollte nicht auf Ulean hören, aber ich hatte keine Wahl. Ich schickte eine letzte Sturmbö an die Stelle, wo Myst eben noch gestanden hatte, dann ließ ich den Wind ziehen. Als er erstarb, blickte ich mich um. Der Schnee fiel dichter als je zuvor, und ich konnte nicht weiter sehen, als mein ausgestreckter Arm reichte.
Ist sie hier? Wo ist sie?
Sie ist weg. Ulean seufzte tief. Sie ist untergetaucht. Der eine Schattenjäger ist mit ihr gegangen .
Endlich ließ auch das Schneetreiben
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