Winters Herz: Roman (German Edition)
nicht darüber, weil ich nicht mit dir heimgehe. Ich gehe zu Sally!«
Sally . Seit wann nannte er seine Lehrer beim Vornamen? Cass atmete tief durch. »Nicht heute, Ben.« Sie sah die anderen an. »Sorry, aber wir müssen uns entschuldigen. Und Ben und ich müssen miteinander reden.«
Ben öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Mr. Remick brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. »Warte einen Augenblick draußen, Ben«, sagte er. Der Junge rutschte von Sallys Knie, starrte seine Mutter vorwurfsvoll an und verließ den Raum.
Mr. Remick wandte sich an Cass. »Tut mir leid«, sagte er, »aber ich glaube nicht, dass wir die ganze Story gehört haben. Was ich gesagt habe, ist wahr – Jess hat anscheinend etwas über mich gesagt. Aber von einem der anderen Jungen habe ich gehört, dass Jess auch über Bens Vater gesprochen hat.«
»Um Himmels willen, weshalb sollte sie das tun? Sie weiß doch gar nichts über uns!«
»Keine Ahnung, aber Kinder können grausam sein, und er war zu Recht empört. Das entschuldigt sein Verhalten nicht, und wir werden natürlich noch einmal ernsthaft mit ihm darüber reden. Und er wird sich entschuldigen. Aber darf ich Ihnen empfehlen, vorerst alles normal weiterlaufen zu lassen? Das ist natürlich Ihre Entscheidung, aber ich bezweifle, dass es gut für ihn wäre, sich heute noch mehr aufzuregen, wenn er schon so durcheinander ist.«
»Mich würd’s freuen, wenn er trotzdem zu uns käme«, beteuerte Sally. »Manchmal ist’s wie gesagt besser abzuwarten, bis sich die Wogen ein wenig geglättet haben. Danach sieht man vieles klarer.« Sie machte eine Pause. »Armer Junge. Er war ganz durcheinander.«
Durcheinander? Nur das? Das Glitzern in Bens Augen war Cass wie Zorn vorgekommen. Kannte sie denn ihren eigenen Sohn nicht mehr? Sie sah zu Boden, nahm sein schwarz-weißes Karomuster nur verschwommen wahr. Sie rieb sich das Gesicht. Dann erinnerte sie sich daran, wie Ben letzte Nacht im Schlaf nach seinem Vater gerufen hatte. Er war nur ein kleiner Junge, allein an einem fremden Ort, der unter dem Verlust seines Vaters litt. Vielleicht war sein Verhalten vor diesem Hintergrund nur verständlich. Vielleicht war das alles ganz normal.
Sie nickte langsam.
»Großartig«, sagte Mr. Remick. »Das ist bestimmt die beste Lösung. Und ich selbst profitiere natürlich auch davon.« Er lächelte herzlich. »Also, ich glaube wirklich nicht, dass Ben etwas fehlt, das sich nicht durch Eingewöhnung und ein paar neue Freundschaften ins Lot bringen ließe. Dazu kann der heutige Abend enorm viel beitragen, denke ich. Und morgen reden wir mit Jessicas Mutter, nicht wahr, Sally?«
Sally nickte. Ihr strahlendes Lächeln war zurückgekehrt. »So, jetzt muss ich meine Schäfchen zusammentreiben. Wenn Sie möchten, Cass, bringe ich Ben später nach Hause. Sie sehen ein bisschen blass aus.«
»Nein, nein, daran würde ich nicht im Traum denken. Ich hole ihn selbst ab.« Cass zwang sich zu einem Lächeln. »Danke, Sally. Wirklich sehr nett von Ihnen.«
Sally nickte, öffnete die Tür und begann Namen zu rufen. Als Cass merkte, dass die mürrischen Gestalten auf dem Flur die Kinder waren, mit denen Ben zu Abend essen sollte, hatte sie Mühe, böse Ahnungen zu unterdrücken. Nein, dies war eine gute Schule mit anständigen Schülern. Sally hätte sie nicht eingeladen, wenn sie nicht gute Kids gewesen wären
Mr. Remick beobachtete sie. »Tut mir leid, dass das passiert ist. Ich hätte diesen Streit verhindern müssen. Aber aufgrundder zusammengewürfelten Klassen, die wir jetzt haben, kann man nicht überall gleichzeitig sein.«
»Nein, natürlich nicht. Das war nicht Ihre Schuld.«
»Solche Dinge passieren eben.«
»Ja.«
»Cass, wollen Sie nicht Ihre Tasche holen und gleich mit zu mir kommen? Sie können sich entspannen, während ich koche. Eine kleine Pause tut Ihnen bestimmt gut. Es wäre doch unsinnig, vorher noch einmal in die Mühle zurückzugehen.«
Er streckte ihr die Hand hin und lächelte. Nach kurzem Zögern ergriff Cass sie.
»Kommen Sie mit mir«, sagte er.
Als sie ins Freie traten, war der Parkplatz leer, und der Abendhimmel begann dunkel zu werden. Cass sah auf und stellte fest, dass der Mond bereits als kalte, blasse Scheibe zu sehen war.
Mr. Remick stellte die Alarmanlage scharf, sperrte die Eingangstür ab und steckte die Schlüssel ein. »Solche Abende liebe ich«, sagte er. »Alles ist so still. Was halten Sie davon, wenn wir unsere kleinen Probleme für heute vergessen?«
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