Winters Herz: Roman (German Edition)
zurück. Ihr Gesicht war kreidebleich bis auf das rote Mal auf ihrer Wange, wo ihr Sohn sie geschlagen hatte.
Cass zog die Schachtel unter ihrem Bett hervor. Sie fuhr mit der Hand über die oberste Schicht, hörte das trockene Rascheln von vergilbendem Papier. Irgendwo dort drinnen steckte Pete zwischen alten Briefen und Papieren und Fotos. Seine Stimme.
Sie ertastete den kleinen Packen, streifte das glatte Band ab und drückte die Briefe an ihr Gesicht.
Pete hatte immer gesagt, er sei kein guter Briefschreiber, besitze kein Talent dafür, aber wenn er einmal anfing, konnte er Szenen so lebhaft beschreiben, dass Cass sie fast mit seinen Augen sah.
Heute haben wir eine Hochzeit gesehen. Das Leben geht normal weiter, wenigstens für manche, oder so normal wie nur möglich. Sie tun, was sie können. Die Braut in einem traditionellen Gewand hatte bunte Bänder ins Haar geflochten. Sie haben alle auf der Straße getanzt und eine riesige Staubwolke aufgewirbelt und ständig gelächelt. Alle haben getanzt – von den Großeltern angefangen bis hinunter zu den kleinsten Kindern. Ein schrecklicher Lärm, aber guter Lärm, weißt Du? Nicht wie Artilleriefeuer. Es war merkwürdig, zur Abwechslung mal Lärm zu hören, der mich nicht umzubringen versuchte.
Ich habe an unsere Hochzeit gedacht und mich gefragt, ob Deine Familie gekommen wäre, wenn Du sie eingeladen hättest. Wird’s nicht langsam Zeit, Deinen Frieden mit ihr zu machen, Cassie? Das Leben ist kurz. Manchmal zu kurz.
Cass zuckte zusammen und hätte den Brief beinahe fallen lassen. Petes Ermahnung hatte sie ganz vergessen – wie merkwürdig, dass sie von allen trockenen, nach Wüste riechendenBriefen gerade diesen herausgesucht hatte, nachdem sie erst vor Kurzem Post von ihrem Vater bekommen hatte.
Pete musste ihren Vater gemeint haben. Der Rest ihrer Familie – ihre Mutter und ein fast unbekannter Onkel – war bei der Hochzeit gewesen. Beide hatten nicht getanzt.
Das Leben ist manchmal zu kurz.
Da hatte er recht.
Sie steckte den Brief in den kleinen Packen zurück. Jetzt darüber nachzudenken, hatte keinen Zweck; solange die Postverbindung unterbrochen war, konnte sie ihrem Vater ohnehin nicht schreiben.
Und trotzdem … wieso hatte sie sich eigentlich zur Rückkehr nach Darnshaw entschlossen?
Sie legte den Packen wieder in die Schachtel, schob ihn mit dem Fuß unters Bett zurück, schlüpfte unter die Decke und schloss die Augen. Nach einiger Zeit hörte sie ein Geräusch, setzte sich halb auf und wandte sich der Wand hinter ihrem Rücken zu. In der Wand war ein scharfes und lautes und absichtliches kratz, kratz, kratz zu hören, als kratzten Fingernägel über Holz. Cass legte die Hand auf den kühlen Verputz. Nun klang es, als käme das Geräusch aus ihrer Hand. Sie klopfte an die Wand.
Das Kratzen verstummte; stattdessen schien etwas wegzuflitzen.
Cass fragte sich, ob Ben dieses Kratzen auch gehört hatte. Es war lauter gewesen als zuvor. Vielleicht hatte er recht: Das konnten Ratten, nicht Mäuse sein. Sie erschauderte, stand auf und verließ das Zimmer, um nach ihrem Sohn zu sehen.
Sie machte in der Diele Licht, blinzelte in der plötzlichen Helligkeit, öffnete Bens Tür einen Spalt weit und stieß sie dann weiter auf. Sein Bett war unordentlich, die Decke zurückgeschlagen, aber es war leer. Sie trat ein, sah sich um. Nirgends eine Spur von ihm.
»Ben?«, flüsterte Cass. Sie schaltete das Nachtlicht ein. Sie sah seine Sachen auf dem Boden liegen, seine Schulbücher waren im Regal gestapelt, aber Ben war nirgends zu sehen. Und dann holte Cass erschrocken tief Luft. Auf dem Boden lag sein Schlafanzug: Ben hatte sich anscheinend gar nicht ausgezogen.
Sie stand einen Augenblick wie erstarrt da, dann lief sie ins Wohnzimmer, machte Licht und sah nach, ob er sich vielleicht hinter dem Sofa versteckt hatte. Sie erwartete fast, ihn kichern zu hören, aber sie hörte nur ihre eigenen keuchenden Atemzüge.
Auch das Bad war leer. Sie zog den Duschvorhang auf, hastete zur Küche weiter …
… und machte auf der Schwelle halt.
Die Schranktüren standen offen, der Inhalt der Schränke war über die Arbeitsplatte verstreut. Es sah aus, als sei alles einfach herausgekehrt worden – Großpackungen mit Frühstücksflocken und Büchsen und Tüten und Gläser –, aber Cass hatte nichts gehört. Dies alles war lautlos geschehen.
In der Wohnung gab es kein mögliches Versteck mehr.
Cass stockte der Atem, und sie presste eine
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