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Winters Herz: Roman (German Edition)

Winters Herz: Roman (German Edition)

Titel: Winters Herz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Littlewood
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Hand an die Brust. Das Blut rauschte in ihren Ohren, und sie musste sich haltsuchend auf die Arbeitsplatte stützen. Ben ist fort . Sie richtete sich auf und ging in die Diele zurück. Er konnte hinter ihrem Rücken von einem Raum zum anderen gehuscht sein, sich sogar in seinem oder ihrem Zimmer versteckt haben   – im Kleiderschrank oder unter dem Bett. Er konnte mit einer Hand auf dem Packen Briefe grinsend im Dunkeln liegen.
    Aber sie wusste, dass er nirgends versteckt war. Und wie zur Bestätigung dieses Gedankens sah sie, dass die Wohnungstür offen stand.
    Cass zog Schuhe an, schlüpfte im Bad in ihren Morgenrock und lief hinaus.
    Im Vorraum war es still, aber dort brannte Licht, was bewies, dass hier jemand unterwegs gewesen war, auf den der Bewegungsmelder angesprochen hatte. Cass hastete zur Treppe. Wenn sie sich beeilte, konnte die Beleuchtung ihr zeigen, wohin Ben gegangen war.
    Hinter dem Glaseinsatz der Tür zum Treppenhaus war ein gelblicher Lichtschein sichtbar. Sie lief darauf zu, bemühte sich, leise zu sein, und griff in dem Augenblick nach der Türklinke, in dem das Licht auf der anderen Seite ausging.
    »Nein! Verdammt.« Cass stürmte durch die Tür, sodass die Beleuchtung wieder aufflammte. Unter ihr war es heller, als brenne auch in der Eingangshalle Licht.
    Sie verdrängte ihre Panik und bemühte sich, nicht an den schlimmstmöglichen Fall zu denken: Hatte Ben das Haus verlassen, würde sie ihn vielleicht nie finden. Sie verdrängte auch das Bild des Mühlenteichs   – tintenschwarzes Wasser unter einer giftgrünen Algenschicht   –, das ihr plötzlich vor Augen stand.
    Nein.
    Cass sprang die letzten Stufen hinunter und knickte mit dem Knöchel um, rappelte sich aber auf und lief weiter. Sie drückte ihr Gesicht an den Glaseinsatz der Haustür. Licht fiel auf den Schnee draußen und verwandelte Fußabdrücke in bogenförmige schwarze Vertiefungen. Cass legte eine Hand auf die Klinke und wollte eben die Tür öffnen, als das Licht hinter ihr erlosch.
    Sie erstarrte. Was tun?
    Sie schwenkte einen Arm, damit der Bewegungsmelder wieder ansprach. Die Fußabdrücke erschienen wieder. Sie erkannte Bens Spuren, aber auch ihre eigenen, die sich kreuzend kamen und gingen. Bens Spuren konnten von heute Abend, heute Morgen, sogar von gestern sein. Aber was war mit der Beleuchtung? Hier unten hatte schon Licht gebrannt, als sie die Treppe heruntergekommen war.
    Das Licht ging wieder aus. Sie drehte sich um. Der Eingangsbereich war jetzt dunkel, aber er fühlte sich irgendwie gegenwärtig an. Hatte hier wirklich Licht gebrannt, als sie heruntergekommen war? Sie konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber vermutlich hatte das Licht gebrannt. Es hatte sich jedenfalls so angefühlt .
    Sie rief Bens Namen, während sie sich von der Haustür abwandte. Die Deckenleuchten im Eingangsbereich flammten leise summend abermals auf, aber kurz davor sah Cass durch eine der Türen blasses Mondlicht einfallen: Apartment 6, die leere Wohnung. Dort musste Ben sein.
    Cass holte tief Luft und schlich auf Zehenspitzen zu der Wohnung unter ihrem Apartment. Die Tür stand offen, und als sie hineinsah, entdeckte sie Ben sofort. Er saß bewegungslos mitten auf dem Fußboden und murmelte wieder und wieder dieselben Worte. Bei seinem Anblick musste sie an einen alten Menschen denken, der versuchte, sich an etwas längst Vergessenes zu erinnern.
    Ben sah sich nicht um, als sie auf ihn zutrat. Das Licht war schwach, die Luft war eisig, und ihr dröhnten die Ohren. Sie konnte nicht verstehen, was er murmelte.
    »Ben«, begann sie, aber ihre Stimme versagte. Sie räusperte sich, trat noch einen Schritt näher. Und dann erstarrte sie.
    Der Bereich um ihren Sohn herum bewegte sich: Schatten flossen um seine Beine und über den Boden, in ständiger Bewegung, dunkles Grau vor den grauen Dielen.
    Als Cass noch einen Schritt machte, sah sie plötzlich alles scharf. Der Fußboden um ihren Sohn herum war mit einer wimmelnden Masse von Ratten bedeckt. Sie strömten durch die unverglasten Fenster herein und hinaus, liefen die Wände hinauf und hinunter, wirbelten kleine Staubwolken auf. Und jetzt hörte sie die Tiere auch, hörte das leise Kratzen ihrer Krallen.
    Cass erstarb die Stimme in der Kehle.
    Sie versuchte, näher an ihren Sohn heranzukommen, überwand ihre Abscheu vor den Nagern, kämpfte sich vorwärts. Ben saß mit geschlossenen Augen da; seine Hände lagen wie abgestorben im Schoß. Ratten schoben ihre Köpfe zwischen seine

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