Winters Herz: Roman (German Edition)
schlaffen Finger, leckten ihm die Handflächen ab.
»Lasset die …«, sagte er mit traumverlorener Stimme wie ein im Schlaf sprechendes Kind. »Lasset die Kleinen …«
»Ben!«
Seine Schultern zuckten.
»Lasset sie zu mir kommen.«
Die Ratten fraßen ihm aus den Händen, leckten an seinen Fingern. Bens Handflächen glänzten von ihrem Speichel. Sie schoben sich vorwärts und stahlen die Krümel, die noch an seinen Händen hafteten. Um ihn herum liefen die Ratten über leere Kartons, deren Inhalt sie wie Trophäen wegschleppten, und strömten aus den leeren Fensterhöhlen. Der blasse Mondschein ließ ihr glattes, dichtes Fell glänzen.
Da drehte sich eine der Ratten mit einem Mal um und starrte Cass mit Augen an, die plötzlich hell leuchteten wie die der Jungen auf dem Schulkorridor, die sie erst gesehen hatte, als sie sich umgedreht und sie fixiert hatten. Wie zuvor Bens Augen, als er sich ihr zugewandt hatte.
Cass hörte sich würgen. Dann war sie in Bewegung, packte ihren Sohn am Arm und riss ihn so abrupt hoch, dass einige Ratten von seinem Schoß fielen.
Ben schrie auf, ein Klagelaut ohne Worte, aber er wehrte sich nicht dagegen, dass sie ihn mit sich hinausschleifte, wobei seine Füße Spuren im Staub hinterließen.
Cass schleifte ihn in die Eingangshalle hinaus und brach in Tränen aus, als sie sich über ihn beugte, in sein Haar weinte, es an ihrer Haut spürte. Sie kniete nieder und zog ihn an sich. »Was tust du, Ben«, fragte sie, »was machst du hier unten?«
Seine Augen waren glasig, sein Blick ging ausdruckslos überihre Schulter hinweg. Cass rüttelte ihn am Arm. »Ben, sieh mich an!«
Und das tat er. Doch dabei verdrehte er die Augen so sehr, dass nur das leere Weiß seiner Augäpfel sie anstarrte.
Cass hätte am liebsten aufgeschrien – aber dann bewegte er den Kopf, nur ganz leicht, und das reflektierte Licht erreichte seine Augen nicht mehr, die zu ihrem eigenen sanften Grau zurückkehrten.
»Ben, hörst du mich?«
Er sah sie an und blinzelte wie ein Kind, das aus einem Traum erwacht.
»Was hast du gemacht?«
»Ich hab sie gehört«, sagte er mit schwacher Stimme. »Sie waren hungrig, Mami. Sehr hungrig.«
»Oh, Ben.« Ihr Kopf sank auf seine Schulter.
»Ich dachte, ich hätte sie reden gehört.«
»Ich habe sie auch gehört, Ben. Sie sind irgendwie in die Wände gelangt. Aber du darfst nicht einfach weglaufen. Das tust du niemals wieder, verstanden?«
Sein Blick trübte sich. »Ich bin müde, Mami.«
»Ja, ich weiß. Das bin ich auch. Komm, wir gehen wieder hinauf.« Als Erstes nahm Cass jedoch seine Hände in ihre, drehte sie nach oben, wischte die klebrige Feuchtigkeit an ihrem Morgenrock ab und kontrollierte sie auf Kratzer und Bissspuren. Sie stellte fest, dass sie durch keinen einzigen Kratzer versehrt waren.
Er schob sie von sich fort; sie hielt ihn allzu fest umklammert.
»Komm, du gehörst ins Bett.«
Sie zog die Tür von Apartment 6 energisch ins Schloss und führte ihren Sohn durch die Eingangshalle zur Treppe. Seine Hand war feucht, und sie stellte sich lange gelbe Nagezähne auf seiner Haut und Schnurrbarthaare vor, die sie kitzelten, undspürte einen kalter Schauder. Während sie ihn halb die Treppe hinauftrug, sah sie sich mehrmals um und erwartete fast, dass die Tiere ihnen wie einst dem Rattenfänger von Hameln folgen würden. Dann waren sie endlich in ihrer eigenen Wohnung. Cass lehnte sich erleichtert innen an die Tür.
»Sie waren hungrig«, sagte Ben noch mal. »Sie wollten nur, dass Daddy sich um sie kümmert.«
»Oh, Schatz.« Cass schloss ihn in die Arme, hob ihn auf und trug ihn ins Bad. Sie machte einen Waschlappen nass, seifte damit seine Hände ein und spülte mit klarem Wasser nach. Als sie einigermaßen sauber waren, machte sie nachdenklich eine Pause. Apartment 6. Ihre eigene Wohnung im Stockwerk darüber war Apartment 12. Zwei Sechser. Sie schüttelte den Kopf.
»Mami?«
Cass blickte auf ihren Sohn hinab. Sie fuhr ihm mit den Händen durchs Haar, kämmte Schmutz und Gipsbrocken heraus und ließ sie aufs Linoleum regnen. Am liebsten hätte sie ihn unter die Dusche gestellt, aber Ben fielen die Augen zu. Er sollte so schnell wie möglich schlafen.
Als sie ihn zu Bett brachte und die Decke an den Seiten einsteckte, konnte sie bereits wieder Geräusche in den Wänden hören. Sie verzog das Gesicht.
»Lasset sie kommen«, murmelte Ben mit geschlossenen Augen, schon halb schlafend.
»Was hast du gesagt?«
Er wandte sich ab,
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