Winters Herz: Roman (German Edition)
und sein Lehrer sprachen. Aber Mr. Remicks Stimme klang warm, als sie sich am Fuß des Weges zum Pfarrhaus verabschiedeten. Über ihnen ragte die Kirche als schwarzer Umriss in eine seltsam helle Nacht auf. Der Himmel war von Schnee schwanger. Cass wusste nicht, was sie zu ihm sagte, irgendeine Abschiedsfloskel, aber sie lächelte, als er etwas murmelte, das wie müssen wir bald mal wieder machen klang.
Ben tastete nach ihrer Hand, und sie ließ sich von ihm führen. Sie sprachen nicht miteinander, bis sie die Mühle erreichten und Cass auf dem Tastenfeld den Zugangscode eingab. Als der Türöffner summte, drückte sie die Klinke herunter und stieß die Tür nach innen auf.
Als sie sich nach Ben umdrehte, waren seine Augen kalt, spiegelten den schwachen Lichtschein des Tastenfelds wider und leuchteten im Dunkeln wie die Augen der Jungen auf dem Schulkorridor. Cass musste an Jessica, an den blutigen Kratzer auf ihrer Wange denken. Dann kam Ben herein.
Er stapfte voraus, stürmte die Treppe hinauf.
»Was hast du? War’s nicht schön bei Sally?«, fragte sie.
Ben drehte sich um und lehnte sich übers Geländer. »Ich hasse dich«, sagte er.
»Was? Ben, was ist denn in dich gefahren?«
»Du hast ihn weggeschickt. Du schickst alle weg.«
»Ich habe niemanden weggeschickt – Ben, was soll das heißen?«
»Du hast dafür gesorgt, dass mein Lehrer geht. Das hättest du nicht tun sollen.« Bens Gesicht schien faltig zu werden, und sie erkannte, dass er Mühe hatte, die Tränen zurückzuhalten. »Du hast Daddy weggeschickt.«
»Ben.« Cass ging zu ihm hinauf und schloss ihn in die Arme. Er zitterte. »Schatz, ich habe Daddy nicht weggeschickt – ich habe ihn geliebt, das weißt du. Hat’s deshalb Streit gegeben? Hat Jessica irgendwas über ihn gesagt?« Vergangenheitsform, dachte sie. Ich habe ihn geliebt – kein Wunder, dass er durcheinander ist.
Ben entwand sich ihr und sagte nachdrücklich: »Er kommt zurück.«
»Was?«
»Daddy kommt zurück.«
Cass streichelte sein Haar. Sie versuchte ihm in die Augen zu sehen, aber sein Gesicht blieb im Schatten. »Tut mir leid, Ben, aber das darfst du dir nicht einbilden. Ich wollte, es wäre so, aber dazu wird es nicht kommen. Daddy ist gestorben.«
Ben schüttelte sie ab, und als Cass ihm wieder zu nahe kam, schlug er um sich und traf ihr Gesicht.
Sie legte eine Hand auf die Wange, wusste nicht recht, ob der Schlag ein Versehen gewesen oder mit voller Absicht erfolgt war.
»Er kommt«, sagte Ben, »und du kannst ihn nicht aufhalten.« Er hetzte die Treppe hinauf, rannte den Flur entlang und verschwand um die Ecke, bevor Cass sich aufraffen konnte, ihm zu folgen.
Über ihr knallte eine Tür. Sie jagte die Treppe hinauf undstürmte in den Vorraum im ersten Stock. Wo steckte er? Aber Ben war da, saß mit dem Rücken an ihre Tür gelehnt auf dem Fußboden. Sie konnte sein Gesicht noch immer nicht deutlich sehen, aber als sie zu ihm ging, merkte sie, dass er weinte.
»Jetzt wird Theodore mein Daddy«, stieß er schluchzend hervor.
»Oh, Ben. Nein, Schatz … pst. Das darfst du nicht denken. Niemand wird jemals deinen Daddy ersetzen.« Sie starrte ihn hilflos an. »Ben, wenn dich das so aufregt, treffe ich mich nicht mehr mit Mr. Remick.« Woher wusste er, dass der Lehrer Theodore hieß?
Ben sah auf, wischte sich Tränen aus den Augen. »Du musst aber«, jammerte er, »das musst du.«
Cass setzte sich neben ihn und umarmte ihn. Die richtigen Worte wollten sich nicht gleich einstellen. »Ich weiß, dass du’s schwer hast, Ben. So vieles hat sich verändert. Aber du weißt, dass dein Daddy dich sehr geliebt hat – und das kann dir niemand jemals nehmen. Niemand versucht, deinen Daddy zu verdrängen.« Er bewegte sich in ihrer Umarmung. »Du bist meine Nummer eins, weißt du das? Auch das kann dir niemand jemals nehmen.« Sie drückte ihn enger an sich. »Komm, wir gehen rein.«
»Aber Sally sagt, dass Theodore …«
Das war’s also! Cass biss sich auf die Unterlippe. »Sally sollte lieber den Mund halten.«
Ben machte ein finsteres Gesicht, und sein Blick ging ins Leere. Sie beugte sich zu ihm hinüber, küsste ihn aufs Haar. »Ben. Vielleicht solltest du nicht mehr zu Mrs. Spencer gehen, wenn dich das so aufregt.«
Er verschwand sofort in seinem Zimmer, knallte ihr die Tür vor der Nase zu, und Cass rieb sich den Ellbogen, den sie sich angeschlagen hatte.
Als sie ins Bad ging und Licht machte, zuckte Cass vor demAnblick ihres Spiegelbilds
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