Winters Herz: Roman (German Edition)
Cass. »Letzte Nacht …« Aber dann merkte sie, dass sie ihm nicht von letzter Nacht erzählen wollte. Bei dem Gedanken an diese grauen Körper, die über ihren Sohn hinwegkrochen, an seinen Fingern leckten, wurde ihr fast übel. Sie blieb stehen.
»Alles in Ordnung? Ich weiß, dass er Streit mit Jessica hatte. Aber jetzt wirkt er doch wieder ganz normal.«
»Ja, das stimmt.«
»Er ist ein guter Junge.«
»Mhm.«
»Unsere schlimmste Seite zeigen wir immer denen, die wir am meisten lieben, weißt du.« Remick lächelte sie an. »Völlig Fremden gegenüber funktionieren wir am besten. Spielt er verrückt, tut er’s nur, weil er weiß, dass du auch dann noch für ihn da sein wirst, wenn alles vorbei ist.«
»Glaubst du?« Sie machte eine Pause. »Denkst du, dass er mich auf die Probe stellen will?«
Er seufzte. »Wir alle werden andauernd auf die Probe gestellt, Cass. Kinder testen ihre Grenzen, weißt du.«
»Du musst mit weit mehr Kindern fertig werden als ich.«
»Aber das ist nicht das Gleiche. Mir zeigen sie ihre gute Seite – zumindest meistens.«
»Glaubst du, dass er sich wieder beruhigt?«
»Er gewöhnt sich ein, schließt Freundschaften. Ich denke schon. Du dagegen …« Er strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. »Du brauchst jemanden, der sich ein bisschen um dich kümmert. Was hältst du davon, wenn ich Sally als Babysitterin engagiere? Dann kann ich wieder für dich kochen.«
»Das solltest du vielleicht. Wir machen vermutlich bald eine Hungerdiät.«
»Das würde ich niemals zulassen.«
»Ganz im Ernst: Wann sind die Straßen wieder passierbar? Der Schneepflug war noch kein einziges Mal hier. Und das Telefon funktioniert auch weiterhin nicht.«
»Das dürfte noch eine Weile dauern – aber du brauchst dich nicht einsam zu fühlen, Cass. Du hast hier Freunde. Wirklich gute Freunde.« Er beugte sich nach vorn und küsste sie leicht.
»Ich bin froh, dass du heute gekommen bist.«
»Gut. Das bin ich auch. Natürlich habe ich tiefere Beweggründe.«
»Oh?«
Er legte den Kopf schief. »Mir geht’s natürlich um Ben. Ich möchte ihn im Team haben.«
»Team?«
»Er baut großartige Schneemänner. Vielleicht ist er auch auf anderen Gebieten gut – Fußball, Rugby. Wir haben bisher nicht viel Gelegenheit gehabt, das rauszukriegen, stimmt’s?«
»Ich glaube, du wirst schon bald merken, dass er Videospiele bevorzugt.«
»Ah, dann brauchen wir vielleicht ein Videospielteam. He, Ben, Zeit für unser Spiel!«
Ben warf sich herum. Seine Backen waren rosig, seine Augenglänzten. Cass stellte sich vor, wie er wohl gewesen wäre, wenn Theo nicht vorbeigekommen wäre. Vermutlich so, wie er gestern Abend gewesen war: mürrisch und blass. Weshalb konnte sie diese Verwandlung nicht allein bewirken? Sie musste ihm wirklich mehr Freiheit lassen, ihn sich amüsieren lassen – ihn ein Kind sein lassen. Sie beobachtete, wie der Lehrer ihm das Haar zerzauste, bevor die beiden sich lachend und auf dem Schnee rutschend ein Wettrennen den Weg zurück lieferten. Sie erinnerte sich an die Berührung seiner Lippen – so leicht, als habe es sie gar nicht wirklich gegeben.
Kapitel 17
Am Sonntagmorgen war Ben vor Cass auf und erfüllte die Wohnung mit seiner Ballerei. Er zuckte nicht zusammen, als sie sich über ihn beugte, um ihn aufs Haar zu küssen; er drehte sich nicht mal um, und sie konnte sehen, dass sein Gesicht wieder blass war.
Sie toastete die letzten Scheiben Brot und sah Ben beim Spielen zu, während sie frühstückte. Der Teller, den sie ihm hingestellt hatte, blieb unberührt. »Komm, iss auf«, sagte sie zuletzt. »Wir gehen spazieren.«
Sie sahen Bert, sobald sie die Haustür öffneten. Er stand, Captain neben sich, an dem Laternenpfahl am Fuß der Zufahrt. Schnee rieselte auf beide herab, bedeckte seine Schultern, die Kapuze seiner Parka, das struppige schwarze Fell des Hundes. Captain schüttelte sich, sodass die Flocken davonstoben.
Cass zögerte, dann sagte sie: »Sieh mal, Ben, da ist Captain.« Ihr Sohn runzelte die Stirn. Er ließ keinerlei Angst erkennen, schien sich aber auch nicht darüber zu freuen, den Hund zu sehen. Was er empfand, war unmöglich zu erraten.
»Warte hier«, sagte Cass. Sie schob den Sicherungsriegel vor, damit die Haustür nicht zufallen konnte, und trat ins Freie. Was will er hier? Gestern war Bert lieber umgekehrt, als im Vorbeigehen Hallo zu sagen.
»Tach auch«, sagte Bert und tippte mit zwei Fingern an seine Kapuze. Er hustete
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