Winters Herz: Roman (German Edition)
gehen.«
»Ben, sieh mich bitte an.« Cass wünschte sich, Theo Remick wäre hier. Er hätte gewusst, was zu tun war.
Der Junge wird nicht mehr wegwollen, hatte Bert gesagt.
»Ich gehe nicht.« Ben warf sich herum, und Cass’ Finger rutschten von seinem Jackenärmel ab. Er lief zur Haustür zurück, versuchte sich an dem Tastenfeld, schlug mit der Faust darauf und rannte um die Mühle herum davon.
»Wohin willst du?« Cass lief hinter ihm her, rutschte auf dem Eis unter dem Schnee aus. Sie sah Bens rote Jacke noch einmal aufblitzen, als er um die Ecke bog; er war dorthin unterwegs, wo der gelbe Kiesbagger abgestellt war. Zum Mühlenteich.
»Ben!«, rief sie laut, aber als sie um die Ecke bog, war nichts mehr von ihm zu sehen. Die Fläche zwischen Haus und Mühlenteich verschwand unter einer reinweißen Schneedecke, die auchihre gestrigen Spuren unsichtbar machte. Aber auf dem Fußweg um die Mühle war der teilweise angewehte Schnee frisch zertrampelt. Ben hatte das Gebäude umrundet. Oder war zu dem unfertigen Apartment mit den leeren Fensterhöhlen unterwegs.
Cass, deren Blut in ihren Ohren hämmerte, lief weiter. Die Fußabdrücke waren der einzige Hinweis auf ihren Sohn. Als sie an den Erdgeschosswohnungen vorbeikam, sah sie flüchtig halbdunkle Räume, in denen sich jedoch nichts bewegte. Nirgends eine Spur von Ratten.
Dann gähnte plötzlich eine leere Fensterhöhle neben ihr, und sie fuhr zusammen, obwohl sie danach Ausschau gehalten hatte.
Der hineingewehte Schnee war grau, wo er sich mit Staub vermengt hatte. Cass war mit einem Sprung auf dem Fensterbrett, schwang die Beine darüber und setzte ihre Füße auf den hohl klingenden Boden. Das Apartment roch nach Feuchtigkeit und Schimmel – und nach etwas anderem: dem scharfen Gestank von Ratten.
Cass’ Augen brauchten einige Sekunden, um sich ans Halbdunkel zu gewöhnen. Ratten waren hier so wenig zu sehen wie Bens nasse Fußabdrücke.
Auf dem Boden lag allerdings etwas halb im Staub Vergrabenes. Was es war, wusste sie schon, bevor sie sich bückte, um es aufzuheben. Die Puppe war schmutziger, der Stoff verblichener, aber Cass konnte noch erkennen, wo T-Shirt und Shorts aufgezeichnet gewesen waren. Dann sah sie die zweite Puppe: schmutzige Wolle als Haar, ein mit Filzstift auf den Stoff gezeichnetes Gesicht. Sie bückte sich erneut, griff danach und verzog das Gesicht.
Der Mund der Puppe war mit einem frischen schwarzen Stift kreuz und quer durchgestrichen worden, und ihr Oberkörper wies ein Loch auf, das von kleinen, scharfen Zähnen zu stammen schien. An seinem Rand war der Stoff dunkel verfärbt.
In dem Loch steckte etwas. Cass bohrte einen Finger hineinund ertastete es: trocken und glatt und abgerundet. Sie bekam es erst heraus, als sie die Puppe zusammenfaltete und den Gegenstand herausdrückte. Ein blaugraues Ding kam zum Vorschein, zerbrach dann und benetzte ihre Hand mit einer klebrigen Flüssigkeit. Cass ließ die Stoffpuppe angewidert fallen, trat einen Schritt zurück. Dabei spürte sie, dass jemand hinter ihr stand: Ben, dessen Blick aus verschatteten Augen ausdruckslos war.
»Ich kann nicht rein«, sagte er. »Mami, lass mich rein – ich kann’s nicht selbst. Ich kann’s nicht.« Er verzog das Gesicht und begann zu weinen.
Cass starrte ihn an. Sie wollte ihn umarmen, konnte sich aber nicht bewegen.
Die Puppe lag auf dem Boden, das zerbrochene Ding blutete aus ihr, die Tropfen bildeten im Staub kleine Kugeln. Cass konnte nur daran denken, dass die Ratten kommen, sich um diese Beute balgen, die Flüssigkeit auflecken und die Puppe benagen würden, bis Gesicht und Haar und alles andere verschwunden war. Ein Ei, dachte sie. Es war ein Ei.
Bens Jammern wurde lauter. »Mami, lass mich rein«, rief er aus. »Mami, bitte. Ich kann’s nicht. Ich kann’s nicht.« Im nächsten Augenblick schlug er nach ihren ausgestreckten Armen und hörte abrupt zu weinen auf.
Sein Gesicht war zu einer wütenden Fratze verzerrt, und er riss die Augen auf und spuckte ihr ins Gesicht. »Ich gehe nicht fort«, sagte er.
Cass legte Ben eine Hand auf die Stirn, nachdem sie ihn auf dem Sofa zugedeckt hatte. Sie wünschte sich, sie könnte ihm etwas Milch heiß machen – ein Getränk für kleine Jungen –, aber sie hatte nur Wasser. Sie saß neben ihm, während er ein Glas trank: mit kleinen Schlucken und angewidert das Gesicht verziehend. »Sally hätte …«, begann er, dann musterte er sie scharf, bevor er wegsah. »Ich will mein
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