Winters Herz: Roman (German Edition)
Schneeklumpen hafteten an ihrer Hose. Cass wischte sie weg. Der Schnee wurde verteilt, dann schmolz er und ließ den Stoff an ihrer Haut kleben. Wie um sie zu verspotten, klarte der Himmel auf, die Wolken schienen wegzuschmelzen. Bald würde er wolkenlos blau sein: ein Sommerhimmel, ein Wüstenhimmel. Die Sonne war nicht mehr als eine weiß glühende Scheibe, die jedoch keine Wärme gab, sondern nur blendete und deren blasses Licht von den Hügeln und Feldern reflektiert wurde.
Cass stapfte weiter, während jeder Atemzug in ihrer Kehle brannte. Der Hügel schien steiler zu sein als neulich, der Schnee viel tiefer. Sie zog die Beine aus den knietiefen Löchern, die bei jedem Schritt entstanden, kämpfte sich weiter, sank nochmals ein und hinterließ eine breite aufgewühlte Fährte, als sei hier irgendein Lebewesen auf dem Bauch gekrochen.
Dabei musste sie an Captain denken. Wie sollte der Hund den Weg übers Moor geschafft haben? Bert musste verrückt gewesen sein, wenn er ihn mitgenommen hatte. Und trotz aller rätselhaften Äußerungen ihr gegenüber hielt Cass den Alten keineswegs für verrückt. Sie musste mit ihm reden: Er verstand sich auf alles Mögliche, auch wenn seine seltsamen Ideen manchmal mit ihm durchgingen. Er würde über vieles Auskunft geben können.
Zum Beispiel über Theodore Remick.
Ben war bei dem Lehrer in der Schule. Daran versuchte sie möglichst nicht zu denken. Ben hätte es niemals bis hierher geschafft – vor allem nicht, wenn er absichtlich getrödelt hätte. Sie hatte keine andere Wahl gehabt. Außerdem konnte ihm nichts passieren; sie hatte jetzt Probleme.
Pete hätte sich niemals in diese Situation hineinmanövriert. Es war Cass, die versagt hatte: Sie hatte sich dafür entschieden, nach Darnshaw zu ziehen, um sich einen Traum zu verwirklichen, eine Idylle zu finden, die sie nicht einmal genau hätte beschreiben können. Dumm. Dumm .
Sie starrte auf den Schnee, funkelte ihn an, forderte ihn zum Verschwinden auf. Er schien jetzt etwas weniger kompakt zu werden. Vielleicht war sie zufällig auf einen Weg geraten. Aber der Schnee blieb schrecklich, ein grausiges Ungeheuer, das sie nicht freigeben wollte, sich an ihr festsaugte und sie für sich behalten wollte.
Noch ein Schritt. Und noch einen. Einen nach dem anderen.
Bei den Hexensteinen würde sie rasten. Sie würde etwas Suppe aus der Thermosflasche in ihrem Rucksack trinken. Sie hatte auch Brot bei sich. Remicks Brot. Sie verzog das Gesicht.
Cass sah mit brennenden Augen auf und konnte nun die Hexensteine erkennen, die dunkel aus dem Schnee aufragten. Im ersten Augenblick war die Perspektive unverständlich: Die Steine sahen wie Löcher aus – wie schwarze Löcher, die in unbekannte Tiefen führten –, aber dann entdeckte sie den weißen Hohlraum in einem der Steine und kehrte in die Realität zurück. Dies waren nur Steine, die sich im Schnee stehend vom Himmel abhoben … Steine, die Hexen abhalten sollten …
Oder sie einsperren, dachte Cass. Sie stellte sich Sally mit einem hohen schwarzen Hut vor, wie sie in einem riesigen Zauberkessel rührte. Darüber musste sie beinahe laut lachen. Ja, Sally die Hexe. Ein irgendwie treffendes Bild.
Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke auf, ließ kalte Luft herein. Ihr war plötzlich so heiß, dass die Kälte willkommen war. Die Steine kamen näher. Sie ließen den Himmel höher, unglaublich fern erscheinen. Als Cass den ersten Block erreichte, zitterten ihre Beine vor Anstrengung. Sie streckte eine Hand aus und berührte die raue schwarze Oberfläche mit ihrem Handschuh.
Cass ließ zu, dass ihre Knie nachgaben. Sie saß am Fuß des Steins, lehnte sich daran, schloss die Augen und spürte, wie die Kälte ihre Wangen brennen ließ. Der Rucksack drückte in ihren Rücken. Sie öffnete die Augen und blickte übers Tal hinaus, in dem Darnshaws weiße Dächer sich kaum von den Feldern abhoben. Nur die Kirche stand allein und klar definiert und schwarz da. Cass war jetzt höher als sie, was ihr ein Gefühl von Freiheit vermittelte.
Sie sah sich um, betrachtete die Hexensteine und den Hügel, auf dem sie rastete. Keine hundert Meter von ihr entfernt ragte etwas Weißes auf.
Dort stand ein Schneemann, weiß vor weißem Hintergrund. Er war klumpig und missgebildet, in sich zusammengesunken, fast steinzeitlich. Sie hatte ihn nur gesehen, weil er einen grau-blau gestreiften Schal um den Hals gebunden trug. Obwohl er keine Augen hatte, schien er sie anzustarren.
Cass
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