Winters Herz: Roman (German Edition)
stockte der Atem. Sie rieb sich das Gesicht, bis ihre Augen brannten, aber als sie aufsah, war die weiße Gestalt noch immer da, und dahinter erkannte sie jetzt eine weitere … und noch eine dritte, die so stark in sich zusammengesunken war, dass sie fast im Schnee verschwand. Sie erinnerte an einen tief gebeugten alten Mann.
Sie atmete tief durch, einmal, zweimal. Ihr Herz jagte. »Nicht«, flüsterte sie. »Nicht.«
Sobald diese vorwurfsvoll klingenden Worte heraus waren, wurde alles noch viel schlimmer.
Cass rappelte sich auf. Der raue Stein scharrte über ihre Jacke und ließ sie zusammenzucken. Bis auf die weißen Gestalten war die Welt still und leer. Sie konnte nicht hier bleiben und sie aus der Ferne betrachten. Sie musste weiter, sich einen anderen Rastplatz suchen.
Oder sie konnte sie aus der Nähe betrachten.
Das wollte sie nicht. Sie erkannte den Schal wieder. Als sieihn zuletzt gesehen hatte, hatte Remick ihn Bens Schneemann umgebunden. Jetzt war er hier. Natürlich konnte ihn jemand entwendet haben. Oder er konnte jemand anderem gehören – oder nur zufällig aussehen wie der von Remick. Und die weiße Gestalt war nur ein Schneemann.
Remick, der mit nacktem Oberkörper im Schnee steht, ihn begrüßt. Ihn beschwört, dichter zu fallen.
Cass stapfte auf die Schneemänner zu. Obwohl sie festen Boden unter den Füßen zu haben schien, bewegte sie sich unsicher. Die drei Gestalten bildeten einen den Hexensteinen zugewandten Halbkreis. Cass blieb vor dem ersten Schneemann stehen. Sie sah sich um, obgleich sie seit Stunden niemanden mehr gehört oder gesehen hatte, und die Steine erwiderten ihren Blick.
Der Schneemann mit Remicks Schal um den Hals hatte doch ein Gesicht: drei Löcher in der als Kopf dienenden Walze – zwei leere Augen und ein zu einem lautlosen Schrei geöffneter Mund. Cass streckte eine Hand aus und berührte ihn. Der Schnee war hart, fest gerollt. Sie sah zu den beiden anderen hinüber.
Cass holte tief Luft und stieß den Kopf des Schneemanns an. Er wackelte leicht, fiel aber nicht herunter. Sie krümmte die Finger und kratzte etwas Schnee weg. Er fiel in großen Klumpen herab, sodass zu sehen war, was darunter lag, Sie öffnete den Mund, um lautlos zu kreischen. Ihre Lunge holte tief Luft, saugte sie ein und stieß sie aus, aber Cass war zu keinem Laut imstande …
Sie streckte die Hand aus, berührte dann aber doch nicht, was unter dem Schnee lag: rosa, faltige Haut, uneben und von Rissen durchzogen.
Ihr Atem kam stoßweise. Sie betrachtete die anderen Gestalten, dann wieder den Schneemann vor ihr. Ihr Verstand fragte: Wie viele?, aber sie wusste keine Antwort, konnte die Gestalten nicht begreifen. Sie hatte nur Augen für das Ding vor ihrem Gesicht.
Die Hexensteine. Vielleicht hielt sich dort jemand versteckt. Irgendjemand hatte das hier getan; er konnte jetzt bei den Hexensteinen auf sie lauern. Vielleicht beobachtete er sie sogar in diesem Augenblick.
Cass fuhr herum. Die Steine ragten groß, schwarz, unversöhnlich auf. Natürlich hätte jemand hinter ihnen versteckt sein können, aber irgendwie wusste sie, dass das nicht der Fall war. Allein die Steine beobachteten sie.
Sie zog den rechten Handschuh ab, knüllte ihn in der Hand zusammen und rieb damit noch mehr Schnee von der Gestalt vor ihr ab. Jetzt konnte sie eine Schädeldecke sehen, an der weiße Haare klebten – nein, graue Haare. Die Kopfhaut war ebenfalls grau, aber stellenweise auch rosa oder weiß.
Ihr Atem pfiff leise in ihrer Kehle. Die empfindliche Haut war dem Schnee schutzlos ausgeliefert. Es gab nichts, was sie hätte schützen können. Cass streckte die Hand aus und hätte sie beinahe gestreichelt. Sie erkannte sie. Natürlich. Als sie ihren Besitzer zuletzt gesehen hatte, hatte er auf einem schlecht beleuchteten engen Flur gestanden, und sie hatte sich eben geweigert, seinen Hund zu versorgen. Das war seine letzte Bitte gewesen, und sie hatte sie ihm abgeschlagen. Jetzt hatte sie seine Kopfhaut vor sich: kahl und exponiert.
Cass holte langsam tief Luft, was wie ein unterdrücktes Schluchzen klang.
Der Alte hatte aufgegeben, war hier auf die Knie gesunken, und der Schnee hatte ihn überwältigt. Er hatte ihn wie Rost oder Schimmel bedeckt, war in sein Innerstes vorgedrungen und hatte sein Herz zum Stehen gebracht. Er hatte es bis hierher, aber nicht weiter geschafft … eine erschreckend kurze Strecke. Armer, armer Bert.
Cass kniff die Augen zusammen, aber die Tränen blieben
Weitere Kostenlose Bücher