Winters Herz: Roman (German Edition)
aus. Für Tränen war es zu spät. Er hatte sie um Hilfe gebeten, und sie hatte sie ihm verweigert. Er war hier oben gestorben. Einsam.
Und dann ist jemand vorbeigekommen und hat ihn ganz mit Schnee bedeckt, Augen und Mund hineingedrückt und ihm einen warmen Schal umgebunden.
Cass stieß einen unverständlichen Schrei aus und sah sich wild um. Aber die weiten Schneeflächen um sie herum waren leer. Saddleworth Moor, in dem Leichen begraben wurden und spurlos verschwanden, in das Menschen gingen und nicht mehr zurückkehrten.
Du wirst zu mir kommen, hatte Remick gesagt. Irgendwie erschien es ihr jetzt fast tröstend. Du wirst zu mir kommen.
Der Schal gehörte Remick, das wusste sie. Er hatte ihn um den Hals von Bens Schneemanns geschlungen und mit ihrem Sohn darüber gelacht. Daddy. Ich will, dass er mein Daddy ist.
Was für ein Mensch war er? Wusste sie das überhaupt? Sie wusste nur, dass allein der Gedanke an seine Berührung sie erschaudern ließ. Und ausgerechnet dieser Mann war jetzt für ihr Kind verantwortlich!
Sally . Ben war bei Sally. Und irgendwer hatte den Schal mitgenommen. Das konnte jeder gewesen sein.
»Bert«, flüsterte Cass. »Tut mir so leid.«
Obwohl sie wusste, dass sie ihn nicht berühren durfte, wischte sie noch etwas mehr Schnee von seinem erstarrten Körper. Sie musste das Gesicht des Alten sehen. Zum Vorschein kamen die Falten auf seiner Stirn, der Nasensattel, die von geplatzten Äderchen durchzogene Haut der Nasenflügel. Und dann spürte sie etwas Hartes unter den Fingern. Cass ließ die Arme sinken. Aus seinem Gesicht ragte etwas Schwarzes. Sie kratzte etwas mehr Schnee ab und fand einen Stein, der in die Augenhöhle gerammt worden war. Und einen zweiten. Steine als Augen, und sein Mund … als sie ihn freizulegen begann, rutschte ihr Finger hinein. Als sie genauer hinsah, ragte ein Rohrstück zwischen seinen Lippen hervor. Sie wollte es herausziehen, aber irgendetwas verhakte sich zwischen den Zähnen. Sie ruckte dran, bekam es miteiniger Mühe heraus und hielt dann ein kurzes Rohr mit einer Querstange und einem geschwungenen Ansatz in der Hand. Ein Kreuz der Verwirrung.
»Jesus.« Cass ließ es fallen, sah seine gotteslästerliche Form im Schnee versinken. »Tut mir so leid, Bert.« Sie hätte den Alten nicht gehen lassen sollen. Das war ihr im Unterbewusstsein klar gewesen. Aber sie hatte es nicht zu verhindern gewusst.
Sie wandte sich dem Schneemann neben Bert zu, ohne den kleineren, der zusammengebrochen war, zu beachten. Sie streckte eine Hand aus, betastete ihn wie im Traum, drückte leicht dagegen. Schneeklumpen lösten sich von der Gestalt, plumpsten mit einem angenehmen Geräusch, als sei das Ende des Winters gekommen, zu Boden.
Cass schüttelte den Kopf. Sie ahnte bereits, was sie finden würde.
Sie kratzte weiter, und als noch mehr Schnee abfiel, kam Haar zum Vorschein. Es war dunkel, noch immer glänzend. Dieses Haar kannte Cass. Sie fiel auf die Knie, die im Schnee einsanken, legte ihre Arme um die Gestalt und zog sie an sich. Sie jammerte klagend – ein Laut, der zugleich nahe und weit, weit entfernt war –, aber sie konnte nicht damit aufhören, versuchte es nicht einmal. Sie streichelte das Haar, verstärkte ihre Umarmung. Zusammengepresster Schnee fiel in Klumpen ab, und Cass sah eine gelbe Strickjacke, die mit kleinen Bommeln besetzt war, mit denen ein kleines Mädchen vielleicht gern spielen würde, bis Mami es ihr verbot, weil es lästig wurde. Noch mehr Haar. Als Cass es streichelte, löste es sich unter ihren Fingern ab. Sie schrie laut auf und schüttelte die Hand, aber die schwarzen Haare blieben an ihren Fingern kleben. Cass musste würgen, warf sich herum und spuckte Erbrochenes in den Schnee.
»O Gott!«, sagte sie, dann etwas ruhiger: »O Gott.« Das war Lucy – war einmal Lucy gewesen, dieses Ding unter dem Schnee. Cass wischte Schmutz von dem grauen, zerstörten Gesicht ihrer Freundin. Lucy war gekommen, um ihr zu helfen – sie hatte zu helfen versucht, und nun hatte sie Steine als Augen; o Gott, sie hatte Steine als Augen . Cass säuberte das Gesicht ihrer Freundin. Ihrer vielleicht einzigen Freundin. In Lucys Rachen steckte kein Metall; ihr Mund war zerschlagen. Abgebrochene Zähne umrahmten einen schwarzen Stein, der hineingedrückt worden war. Ihre zu einem stummen Schrei verzerrten Lippen umschlossen ihn. Speichel war herausgetropft und zu kleinen Eiszapfen gefroren. Als Cass dagegen stieß, brachen sie ab und rissen
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