Winters Herz: Roman (German Edition)
überhaupt gekommen, bevor der Schnee gekommen war. Irgendjemand hatte sie ermordet und hier heraufgebracht. Cass senkte den Kopf und weinte um diese Frau, die sie nie gekannt hatte. Dann richtete sie sich kniend auf. »Er war’s nicht«, flüsterte sie dem Himmel zu. »Niemals!«
Sie erinnerte sich, wie sie mit Ben übers Moor gefahren war und weder links noch rechts etwas gesehen hatte, bis eine Gestalt aus dem Nebel aufgetaucht war und sie angehalten hatte. Sie sprach den Namen aus: Sally .
Sally, die sich um Ben kümmerte. Sally, die sie gebeten hatte, ein Auge auf ihren Sohn zu haben …
Ben hatte die Realität damals besser erfasst als Cass. Mir gefällt’s hier nicht, hatte er gesagt . Die Lady hat gemieft. Sie hat schlecht gerochen, und ich hasse es hier.
»O Gott!«, rief Cass aus. Sie kroch rückwärts und hatte Mühe, mit den Füßen im Schnee Halt zu finden. Sie musste nach Darnshaw zurück. Als sie sich aufrappelte, hörte sie wieder den seltsamen stöhnenden Klagelaut und blickte um sich. Sie hatte ihn sich nicht nur eingebildet. Er entstand irgendwo unter ihr.
»Mein Gott«, flüsterte sie, »nein …«
Sie sah sich um und erkannte, dass die Schneefläche auffällig eben war, sich gleichförmig nach allen Richtungen erstreckte.
Sie glaubte Bens Stimme zu hören, als er vom Moor gesprochen hatte: Pass’n Sie auf den See auf. Der ist zugefror’n. Oben bei den Steinen. Manchmal schwer zu seh’n.
Sie starrte in den Schnee. Sie stand nicht etwa auf festem Boden. Sie stand auf einem zugefrorenen See.
Mrs. Cambreys Finger waren aufgedunsen gewesen, weil sie im Wasser gelegen hatte, bis das Eis sie umhüllt und festgehalten hatte.
Cass machte noch einen Schritt und hörte ein Knistern und Knacken. Sie bekam weiche Knie. Sie ging unwillkürlich gebeugt, um einen möglichst tiefen Schwerpunkt zu haben, und riskierte noch einen Schritt. Schwacher Wind blies ihr eisig ins Gesicht, schien sie zu necken. Eine Brise aus einer anderen Welt, die zu dem langen Marsch bergauf gehörte, bevor sie hier hergekommen war und die Dinge gesehen hatte, die sie gesehen hatte. Sie glaubte, die Gestalten hinter sich zu spüren, ihre starren Blicke auf sich zu fühlen. Sie wagte es nicht, sich umzudrehen.
Als eine vom Wind aufgewirbelte Schneefahne über die ebeneFläche zog, kam von unten wieder ein schmerzhaft lautes Stöhnen.
Noch einen Schritt. Nur einen.
Vor ihr lag eine kleine Böschung, danach stieg der Hügel wieder an. Die Hexensteine warteten, und hinter ihnen begann das Moor. Als Cass noch wenige Schritte vom Ufer entfernt war, warf sie sich nach vorn, ohne darauf zu achten, ihr Gewicht gleichmäßig zu verteilen. Dann rannte sie los, landete mit einem Sprung auf der Böschung und kroch im Tiefschnee weiter. Sie war völlig durchnässt, aber sie war nicht mehr auf dem Eis.
Als sie sich endlich aufgerappelt hatte, wurde ihr klar, dass sie übers Moor weiterwandern konnte und nie mehr zurückzukommen brauchte. Sie konnte jemanden schicken, der ihren Sohn holte; sie konnte zur Polizei gehen, Hilfe holen – die Behörden würden ihr helfen müssen, vielleicht sogar Hubschrauber einsetzen, und Cass stellte sich vor, wie sie mitflog und im Park landete, während das ganze Dorf zusammenlief und gaffte.
Aber sie wusste, dass diese Möglichkeit nur theoretisch bestand.
Ben war in Darnshaw, und Sally war bei ihm. Sie selbst musste ihren Sohn dort rausholen.
Cass stolperte blindlings den Hügel hinunter, war ständig kurz davor, sich den Knöchel zu verknacksen, und machte niemals halt, um abzuwarten, ob der stechende Schmerz stärker werden würde. Wenn sie stürzte, rappelte sie sich wieder auf und hastete weiter. Ihr Gesicht war von der Kälte starr, und sie spürte nichts mehr, außer dass die Zeit langsamer und zugleich schneller verging, als ihr lieb war. Sie sah sich nicht mehr um.
Ben . Sie sah ihn vor sich: klein und blass, als er hasserfüllt hervorstieß: Du bist seine Hure.
Cass machte abrupt halt.
Die anderen versuchten, ihn ihr abspenstig zu machen.
Das war’s: Diese Besuche bei Sally, die Jungen mit ihren leeren, kalten Blicken, während sie im Halbkreis sitzend zu ihr aufsahen. Wir haben geteilt.
Was teilten sie? Erzählten sie ihm Geschichten, Lügen , über sie, über Pete? Sie schloss die Augen.
Ich will, dass er wiederkommt. Wie soll er uns jetzt finden? Er weiß gar nicht, wo er suchen soll.
Was hatten sie ihm erzählt?
Das spielte keine Rolle. Sie traute sich zu, alles
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