Winters Herz: Roman (German Edition)
ungeschehen zu machen, sobald sie nur Darnshaw hinter sich gelassen hatten. Sobald sie Ben in Sicherheit gebracht hatte. Cass zwang sich dazu, den nächsten Schritt zu machen, dann noch einen, bevor ihre Muskeln sich lockerten und sie bergab weiterstürmte.
Kapitel 29
Die Schule war abgesperrt. Cass starrte die Tür an, ratterte mit der Klinke und trat so fest gegen das Holz, dass die alten Angeln knarrten. Dann machte sie einen Schritt zurück … und bemerkte erst jetzt den Zettel an dem Glaseinsatz: GESCHLOSSEN , stand darauf. WEGEN HEIZUNGSAUSFALL . Das war alles – keine Nachricht für sie, kein Hinweis darauf, wo Ben jetzt war. Sie hatte Halsschmerzen. Auch ihr Herz schmerzte. Cass lehnte sich an die Tür und legte die Wange an das kalte Glas.
Erst als sie sich abwandte, fiel ihr die fast greifbare Stille auf dem Schulhof und der Zufahrt auf. Sie war hier ganz allein.
Sie hatte Sally gebeten, sich um Ben zu kümmern.
Cass hastete zur Straße hinauf und weiter durchs Dorf. Dabei wurde sie erstmals auf Stellen aufmerksam, an denen die Schneedecke so dünn war, dass darunter Asphalt zu ahnen war. Der Schnee schmolz, aber das kam zu spät. Sally hatte ihren Sohn – Sally, die möglicherweise Lucy, Bert, Mrs. Cambrey ermordet hatte.
Aber Sally hatte Jess verschont – oder etwa nicht? Cass schluckte, hatte dabei das Gefühl, Eisbrocken schürften ihr die Kehle auf, und ging weiter.
WIlLOWBREAK CRESCENT . Das Straßenschild war halb zugeschneit. Gewöhnliche Häuser, nicht aus Naturstein, sondern in Ziegelbauweise, ihre Haustüren rot oder grün oder weiß. Aus Kaminen stieg Rauch auf, wie um die Normalität dieses Tages zu unterstreichen. Cass blieb am Gartentor stehen. Der Tag war normal; davon kündete hier alles. Sie selbst hatte den Bezug zur Realität verloren. Sie hatte ein schlimmes Erlebnis gehabt und Dinge gesehen, die es nicht gegeben haben konnte.
Aber diese Frau hatte ihren Sohn. Cass erinnerte sich an Bens erste Reaktion auf Sally: Die Lady hat schlecht gerochen, und ich hasse es hier.
Cass stieß das Gartentor auf. Sallys Vorhänge waren zugezogen – warum? Es war doch noch heller Tag.
Sie klopfte an die Haustür, wartete nur Sekunden und hämmerte nochmals dagegen. Sie versuchte, den Namen ihres Sohns zu rufen – Ben –, brachte aber nur ein Krächzen heraus. Ihre Magennerven rebellierten.
Die Tür klickte und scharrte und öffnete sich. Sally erschien mit verquollenen Augen und feuchtem Haar in dem Türspalt. Ihr Gesicht glänzte von Fettcreme. »Du bist wieder da«, sagte sie. »So früh hätte ich dich nicht erwartet. Sie sind im Wohnzimmer.« Ihr Kopf verschwand, und die Tür wurde geschlossen, um gleich wieder ganz geöffnet zu werden. Sally stand in einen Morgenrock gewickelt da. »Ich hab gerade geduscht. Ben geht’s gut, er ist mit Damon zusammen. Alles in Ordnung mit dir? Du siehst aus, als hättest du …«
Cass drängte sich an ihr vorbei, rief den Namen ihres Sohns.
Im Wohnzimmer war es dunkel. Ein eigenartiges Dämmerlicht ließ die sitzenden Gestalten nur ahnen.
»Ben?«
Gesichter wandten sich ihr zu. Sie konnte nicht erkennen, welches ihrem Sohn gehörte.
»Cassandra, alles in Ordnung mit dir?«
»Ich nehme ihn mit.« Cass sah sich in dem Kreis um und begegnete nur ausdruckslosen Blicken. Dann entdeckte sie Bens helles Haar. Seine Hände umfassten etwas, das auf seinem Schoß lag. Cass trat ans Fenster, zog die Vorhänge auf, ließ Tageslicht ein und gab den Blick auf eine gewöhnliche Wohnstraße frei.
»Hör zu, ich …«
»Ich habe sie gesehen. Ich weiß, was du getan hast.«
»Ich weiß nicht, was …«
»Ben.« Cass bückte sich, packte ihn am Arm und riss ihn hoch. Ben sah nicht zu ihr auf. Er ließ das Ding fallen, das er in den Händen gehalten hatte. Cass sah, dass es das Gamepad einer Spielkonsole war. Aus dem Augenwinkel heraus nahm sie wahr, dass Damon sich bewegte, sich den Controller schnappte und ihn mit beiden Händen festhielt.
»Wir gehen, Ben. Sofort.«
Ben sagte noch immer nichts. Cass’ Finger gruben sich in seinen Arm; sie merkte, was sie tat, konnte sich aber nicht beherrschen, und er versuchte nicht, sich loszureißen. Sie sah auf ihn hinab. Sein Blick war ausdruckslos.
»Ben«, wiederholte sie.
Er wandte ihr langsam das Gesicht zu und verzog den Mund – aus Hass, nicht aus Wut oder Angst. Er war leichenblass.
»Ich glaube, er würde lieber hierbleiben«, sagte Sally, »vielleicht bis du dich
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