Winters Herz: Roman (German Edition)
endlich begriff, was er ihr zeigen wollte: den roten Strich quer über seine Handinnenfläche.
Cass streckte eine Hand aus, ergriff seine und öffnete den Mund. Aber sie brachte kein Wort heraus.
Ben sah weg. Er atmete schwer.
»Was ist das, Ben? Was haben sie mit dir gemacht?«
Er versuchte zu sprechen.
Cass rieb seine Finger, um sie zu wärmen.
»Das Buch«, sagte er schließlich, »das Buch. Es ist das Buch.«
»Was soll das heißen, Schatz?«
Ben blickte auf, und sie sah den Himmel in seinen Augen: kalt und blass. »Damit ich schreiben konnte«, sagte er. »Damit ich in das große Buch schreiben konnte.« Und dann machte er kehrt und rannte davon. Auf der menschenleeren Straße hallten seine Schritte.
Cass holte ihn ein. Seine Augen waren groß von Tränen. »Ben, was soll das heißen? Welches Buch?« Sie konnte nur an ihren Vater denken, wie er über sie gebeugt kontrollierte, ob sie und ihr Kleid gut genug waren, während die Kirche düster hinter ihm aufragte.
Ben riss sich los und marschierte schweigend auf die Zufahrt zur Mühle zu. Irgendjemand hatte das in die Tür geritzte Kreuz durch tief ins Holz geschnittene Kerben ausgelöscht. Ben stand vor der Tür, und sie sah, wie sein blasses, verkniffenes Gesicht sich in dem Glaseinsatz spiegelte.
Sie tippte den Code ein, und schob Ben vor sich her in die dunkle Eingangshalle. Die Beleuchtung flammte nicht auf, aber Cass nahm sich nicht die Zeit, sich darum zu kümmern. Ihre erste Sorge galt Ben, der durchfroren und hungrig und verwirrt war. Vorerst brauchte er ein warmes Bett, und morgen in aller Frühe würden sie fliehen. Diesmal würde Ben es schaffen; notfalls würde sie ihn tragen. Sie würde ihre Aussage bei der Polizei machen, und alles würde in Ordnung kommen.
Ben ließ sich von ihr baden; er leistete keinen Widerstand, half aber auch nicht mit. Außer dem hellroten Schnitt quer über die Handfläche wies sein Körper keine Verletzungen auf. Die Wunde ließ Cass an Blutsbruderschaften denken – an Jungen, die sich in die Hand schnitten und ihre Hände aneinanderdrückten. Blutsbrüder. Familie . So hatte Sally sie genannt: ihre Familie. Cass führte seine Handfläche an ihre Lippen und küsste sie, aber Ben lächelte nicht.
»Ben, was habt ihr geteilt?«, fragte sie.
Er sah auf. Sein Blick war ausdruckslos.
»Du hast gesagt, ihr hättet euch bei Sally etwas geteilt. Was war das?« Sie streichelte sein Haar und wartete.
»Wir haben Zeug gegessen«, sagte er.
»Was für Zeug?«
Er schüttelte den Kopf.
»Wie hat es ausgesehen?«
»Es war bloß Zeug. Wie Brot, aber ganz schwarz. Und wir haben etwas getrunken. Es hat komisch geschmeckt. Ich hab’s nicht gemocht.« Er verzog das Gesicht.
»Wie hat es ausgesehen?«
Er zuckte nochmals seine mageren Schultern und schlang die Arme um die Knie. »Wir haben Spiele gespielt«, sagte er. »Die haben mir gefallen.«
»Ich weiß, dass du gern spielst. Also raus aus der Wanne, dann kannst du spielen, was dir gefällt.«
Cass trocknete ihn ab, setzte ihn vor den Fernseher und drückte ihm das Gamepad der Spielkonsole in die Hand. Der Schnitt schien nicht wehzutun, als seine Finger über die Tasten flogen, aber er reagierte auf nichts, lachte nicht, seufzte nicht und stieß auch kein Triumphgeheul aus, wenn es auf dem Bildschirm Tote gab. Nur seine Finger wirkten lebendig.
»Ben?«
Er ging auf Pause. Sie kniete neben ihm nieder, drehte seinGesicht zu sich. Seine Augen ließen sie den Atem anhalten. Sie waren dunkel, verschattet, seelenlos . Cass zwang sich dazu, ruhig zu sprechen. »Zeit fürs Bett, Liebes.«
Cass glaubte, sie würde endlos lange wach liegen, aber stattdessen wechselte sie zwischen Wachen und Träumen hin und her. Sie trieb an der Oberfläche, aber der Traum zog sie zuletzt doch in die Tiefe. Ihr Kleid war nicht gut genug. Ihr Vater sah auf sie herab, und seine Miene war zornig. Sie wusste nicht genau, was sie tun musste, um besser auszusehen. Dies ist Liebe, sagte er ständig, aber wenn sie zu ihm aufsah, lag keine Liebe in seinem Blick.
Das Buch lag aufgeschlagen auf dem Altar, ein staubiger schwarzer Foliant mit vergilbten Pergamentseiten. Cass ging hin und sah es sich näher an. Die Schrift war graubraun, dann dunkelbraun, dann rostbraun. Die letzten Einträge waren heller, eher rötlich. An einigen Stellen waren Tintenspritzer wie von einem schlecht geschnittenen Federkiel zu sehen. Sie konnte das Buch riechen. Es roch nach Alter, Staub, trockenem Mauerwerk. Aber
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