Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winters Herz: Roman (German Edition)

Winters Herz: Roman (German Edition)

Titel: Winters Herz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Littlewood
Vom Netzwerk:
aufrecht imBett. Sein Mund stand offen, und aus dem rechten Mundwinkel hing ein dünner Speichelfaden.
    Zimmerdecke, Wände und Fußboden hallten von Klopftönen wider.
    Cass lief zu ihm, schloss ihn in die Arme. »Pst«, sagte sie, obwohl er nicht gesprochen hatte. »Das sind nur Kinder, die uns einen Streich spielen. Ungezogene Kinder, Ben. Aber wir müssen sie nicht mehr lange ertragen.«
    »Sie sind gekommen, um mich zu holen«, sagte er.
    »Nein, das sind sie nicht. Das ist nur ein dummes Spiel, das sie spielen.«
    Seine Haut war klamm, wo sie ihre Arme berührte. Er wand sich aus ihrer Umarmung. »Das ist kein Spiel.«
    »Darauf kommt’s nicht an, Ben. Jedenfalls gehen wir morgen von hier fort, du und ich. Ist dir das klar?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Doch, Ben. Wir gehen fort. Wir kommen nicht zurück.«
    »Das macht keinen Unterschied. Er hat mich.«
    »Was soll das heißen?«
    »Er ist hier drinnen.«
    »Hier?« Cass sah zur Tür hinüber.
    Ben hob einen Finger, tippte damit an seine Brust. »Hier   – er ist hier drinnen. Er hat’s mir gesagt.«
    »Von wem sprichst du, Ben?«
    »Daddy.« Er machte eine Pause. »Er ist jetzt mein Daddy   – das sagen die anderen. Sie haben mir das Brot und das Zeug gegeben, und ich habe ins Buch geschrieben.«
    Cass glaubte plötzlich, ihren Vater vor sich zu sehen: Dies ist Liebe. »Du meinst wie in der Kirche?«
    Ben machte ein finsteres Gesicht.
    »Was musstest du noch tun?«
    Als Antwort streckte er ihr seine Hand hin, auf der eine dunkelrote Linie die blasse Haut zerschnitt.
    »Du hast deinen Namen in ein Buch geschrieben?«
    Er nickte.
    »In welches Buch, Ben? Wo war es?«
    »Damon hat gesagt, das ist okay«, sagte er. »Er hat gesagt, das ist okay, weil es in der Kirche ist. Aber es fühlt sich nicht okay an.«
    Sie erinnerte sich an ihren Traum. Wie sie versuchte, Daddy in ihrem weißen Kleid zu gefallen, wie sie sich bemühte, gut genug zu sein. »Das Namensbuch.«
    »Es bedeutet, dass man zur Familie gehört«, flüsterte er. »Ich wollte zur Familie gehören, Mami. Ich will meinen Daddy.«
    Sie zog ihn an sich.
    »Sie haben gesagt, ich könnte zur Familie gehören, nur muss es wehtun, wenn man dazugehören will. Deswegen kriegt man die Hand zerschnitten und muss damit schreiben.«
    »Du hast mit Blut geschrieben?« Cass dachte wieder an den Traum, an die Schrift, die oben fast schwarz, dann dunkelbraun, zuletzt rostbraun gewesen war. »Wer hat dir die Hand zerschnitten? War das Damon?« Vielleicht waren es ja doch nur die Kinder gewesen, die alte Geschichten gehört und dumme Spielchen getrieben hatten. Vielleicht wusste Sally nicht einmal davon.
    Doch was hatte Sally noch vor Kurzem zu Ben gesagt? Wir sind deine Familie .
    Er ist hier drinnen , hatte Ben gesagt. Cass sah sich um, erwartete fast, wieder das Klopfen zu hören, und erinnerte sich daran, wie es scheinbar aus den Wänden gekommen war. Sie spürte einen kalten Schauder. »Wer ist da in dir, Ben?«
    Sie hatte das Gefühl, es bereits zu wissen. Sie spürte das Gewicht der Hand ihres Vaters, das sie niederdrückte. Lass ihn in dein Herz, Gloria. Gib anderem keinen Raum.
    Aber Ben war so klein. Wie hatte sie das geschehen lassen können?
    »Deine Seele«, flüsterte sie.
    »Die haben sie verlangt«, sagte Ben. »War das falsch, Mami? Hätte ich’s nicht tun sollen?« Als er zu ihr aufsah, erkannte sie etwas von dem kleinen Jungen, der er früher gewesen war   – der er eigentlich noch immer war. Sie beugte sich hinunter und küsste ihn aufs Haar. Er war unschuldig; er konnte nicht gewusst haben, was er tat. Das Ganze war ein verrückter Schwindel, nicht mehr als irgendein religiöser Hokuspokus.
    Du bist das verrückteste Weibsbild, das ich kenne.
    Cass schloss die Augen. Es lag an ihr; vermutlich war sie kurz davor überzuschnappen. Sie spürte, wie Ben sie wieder am Arm zupfte, aber sie glaubte Lucy zu sehen: ausdruckslose Steinaugen, die blicklos einen verschneiten Hügel fixierten. Sie hatte eine Gänsehaut.
    »Mami?«
    Sie küsste ihren kleinen Jungen. Sie streichelte seinen Arm, drückte ihn an sich und schmiegte ihre Wange an seinen Kopf, bis er einschlief.

Kapitel 30
    Cass starrte in den Spiegel, begutachtete ihre Augen. Ben hatte sie schon geweckt, aber er durfte noch ein bisschen dösen. Sie konnte es nicht ertragen, wie er sich aufgesetzt und sie angesehen hatte: mit glasigen und zugleich leblosen Augen, ohne Interesse oder Angst, als sei er innerlich ausgebrannt.
    Der Junge wird

Weitere Kostenlose Bücher