Winters Knochen
Der Schnee war durch ein paar wärmere Stunden zusammengebacken und nicht tief, aber es gab Schlaglöcher, um die man den Pick-up vorsichtig herummanövrieren musste, um nicht den Unterboden zu zerkratzen. Es gab eine Menge solcher Löcher, und letzten Frühling hatte das Schmelzwasser den Weg so aufgeweicht, dass die Autoreifen stellenweise radkappentiefe Furchen in den Lehm gegraben hatten. Mit der linken Hand hielt Ree Neds Babytrage fest.
»Eure Straße ist so schlimm geworden, die kann man bald schon nicht mehr Straße nennen«, meinte Gail.
»Das sagst du schon seit der dritten Klasse.«
»Na, das stimmte in der dritten Klasse, und jetzt stimmt es noch mehr.«
»Wir mögen das so – es hält die Touristen fern.«
»Denselben alten Witz hat dein Vater gerissen, als ich das erste Mal hergefahren bin.«
»Ich glaub, er meinte das ernst.«
»Sieht so aus«, meinte Gail. Sie brachte den Pick-up an der asphaltierten Straße quietschend zum Stehen. »In welche Richtung?«
»Nach Dorta, dann nimmst du die Straße nach Süden, vorbei an Strawn Bottoms. Du weißt, welche ich meine, oder? Dann ist es nur noch ein kurzes Stück über die Grenze.«
»Oh. Ich glaube, ich bin doch schon mal dort gewesen. Ist das da, wo es all die Blaubeeren gibt? Zum Selber-pflücken?«
»Ja. Ganze Äcker voll mit Beeren. Ich hab allerdingsnoch nie selber welche gepflückt, wenn ich da unten war.«
Ned gurgelte, schlug langsam die Augen auf und schloss sie genauso langsam wieder. Er trug eine kleine Mütze, die unter dem Kinn zusammengebunden war, und war ganz dick in eine himmelblaue Decke gewickelt. Im Pick-up roch es nach Babypuder und ausgesabberter Milch, die verkrustet an der Decke klebte, und nach den kalten Kippen im Aschenbecher. Wenn ihnen Scheinwerfer entgegenkamen, die in die andere Richtung wollten, und Gail blinzeln musste, streckte sie instinktiv eine Hand nach dem Baby aus.
»Mein Dad ist gestern vorbeigekommen«, sagte Gail. »Er hat mir ein paar von meinen Sachen gebracht, und ich hab ihn gefragt, ob er vielleicht weiß, wo dein Dad steckt. Er konnte mir nicht in die Augen sehen, als ich ihn fragte, also hab ich noch mal gefragt, doch er hat nur gesagt: ›Geh und füttere deinen Jungen.‹«
»Ich weiß.«
»Da hatte ich gleich so ein schlechtes Gefühl.«
»Er hat wahrscheinlich recht.«
Ree hatte eine Hand auf dem Baby liegen und den Blick auf ihre Freundin gerichtet. Vorbeifahrende Autos strahlten Gail in schnellen, stotternden Bildern an, ihre zu einem bitteren Lächeln verzogenen Lippen, die Wangenknochen voller Sommersprossen, die verletzt blickenden braunen Augen. Ree schaute zu, wie Gails Hand vom Lenkrad zur Gangschaltung langte, während die Straße bergauf und bergab und in Kurven durch das dunkleLand lief. Sie sah zu, wie Gail die Hand nach Ned ausstreckte und seine Babynase berührte, als sie den Twin Forks River auf einer eisernen Skelettbrücke überquerten und das kalte Wasser nach Süden rauschen hörten.
»Die Straße hier, richtig?« fragte Gail.
»Ja.«
Das erste Mal, als Ree einen Mann geküsst hatte, war es gar kein Mann gewesen, sondern Gail, die so tat, als sei sie einer, und wie das mit dem Küssen so andauerte und Gail sie rückwärts auf eine Decke aus Fichtennadeln schubste und ihr die Zunge tief in den Mund steckte, ertappte sich Ree dabei, wie sie in Gedanken an der Zunge eines Mannes sog, und sie sog an der Zunge des Mannes, bis sie Morgenkaffee und Zigarren schmeckte und der Speichel ihr zwischen den Lippen das Kinn hinunterlief. Sie öffnete die Augen und lächelte, und Gail tat noch immer so, als sei sie der Mann, und packte ihre Brüste, drückte sie, küsste ihren Hals, und Ree murmelte: »Genau so! Ich will es genau so!« Dann folgten drei Jahreszeiten voller Kichern und Üben, sie knutschten jedes Mal, wenn sie allein waren, spielten Mann und Frau, jeder war mal oben, mal unten, drängte knurrend oder empfing seufzend. Als Ree das erste Mal einen Jungen küsste, der kein Mädchen war, waren seine Lippen so sanft und zögernd auf den ihren, so trocken und unbeweglich, dass sie es irgendwann aussprechen musste: »Zunge, Schätzchen, Zunge!« Doch der Junge, den sie Schätzchen nannte, wendete sich nur ab und machte: »Igitt!«
In Reid’s Gap gab es fünf Straßen und zwei Stopp-schilder.Der Schnee türmte sich auf dem Parkplatz der Grundschule, und der
Get’n Quik
war das einzige Gebäude, in dem Licht brannte. Ein Acker voller Unfallwagen säumte die Straße, die
Weitere Kostenlose Bücher