Wintersturm
wurden, in der Tat erstickt.«
»Das ist richtig.«
Der Verteidiger hatte versucht, die Wirkung dieser Darstellung abzuschwächen. »Haben Sie Mrs. Harmon auch danach noch in die Arme genommen?«
»Nein. Sie ging mit dem Kind nach oben.«
»Somit haben wir nur Ihre Aussage, daß Mrs. Harmon es gern gehabt hatte, als Sie sie gewaltsam küßten.«
»Verlassen Sie sich darauf, wenn ich mit einer Puppe zusammen bin, merke ich schon, ob sie will oder nicht.«
Und dann Nancys beeidete Aussage, als sie über diesen Vorfall befragt wurde: »Ja, er hat mich geküßt. Ja, ich wußte wohl, daß er es tun würde. Ich ließ es zu.«
»Erinnern Sie sich auch, daß Sie erklärt haben, Ihre Kinder würden ersticken?«
»Ja.«
»Was wollten Sie damit sagen?«
Laut Artikel blickte Nancy nur an ihrem Anwalt vorbei und starrte, ohne etwas wahrzunehmen, über die Gesichter im Gerichtssaal hinweg. »Ich weiß es nicht«, sagte sie kaum hörbar.
Jonathan schüttelte den Kopf und fluchte innerlich. Man hätte nie zulassen dürfen, daß das Mädchen den Zeugenstand betritt. Sie schadete sich nur selbst. Er las weiter. Als er an die Stelle kam, wo die Entdeckung dieser bemitleidenswerten Kinder beschrieben wurde, zuckte er zusammen. Angespült beide, im Abstand von zwei Wochen, um 50 Meilen auseinander. Die Leiber schrecklich aufgetrieben, von Seetang verklebt, der Körper des kleinen Mädchens grausam verstümmelt - wahrscheinlich durch Haie. Wie durch ein Wunder waren die handgestrickten hellroten Pullover mit dem weißen Muster, die sie trugen, immer noch farbkräftig.
Nachdem er die Artikel zu Ende gelesen hatte, richtete Jonathan seine Aufmerksamkeit sofort auf das voluminöse Aktenbündel, das Kevin ihm geschickt hatte. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, um es durchzuarbeiten. Er begann mit dem ersten Zeitungsausschnitt. In einer Schlagzeile wurde gemeldet, daß die Harmon-Kinder aus dem Fahrzeug ihrer Mutter verschwunden waren, während sie Einkäufe machte.
Vergrößerungen von unscharfen Fotos mit beiden Kindern; eine bis ins kleinste Detail gehende Beschreibung des Gewichts, ihrer Größe und ihrer Bekleidung. Jeder, der irgendeine Mitteilung dazu machen könne, möge bitte diese Sondernummer wählen. Sein Verstand und seine Augen waren hervorragend geschult. Deshalb kam Jonathan mit der Lektüre sehr schnell voran; Informationen wurden geordnet und miteinander verglichen, beweiskräftige Fakten, auf die er später Bezug nehmen wollte, wurden leicht unterstrichen. Als er anfing, das Verhandlungsprotokoll zu lesen, verstand er, warum Kevin Nancy Harmon als eine leichte Beute für den Staatsanwalt betrachtet hatte. Was die junge Frau da machte, hatte überhaupt keinen Sinn. Mit dem, was sie vorbrachte, hatte sie ausschließlich dem Staatsanwalt in die Hände gespielt –
kampflos; ihre Unschuldsbeteuerungen klangen mechanisch und teilnahmslos.
Was war mit ihr los gewesen? Das hätte Jonathan gern gewußt. Es schien fast so, als wollte sie gar nicht freigesprochen werden. An einer Stelle hatte sie sogar zu ihrem Mann direkt von der Zeugenbank aus gesagt: »Oh, Carl, kannst du mir verzeihen?«
Die Falten gruben sich noch tiefer in Jonathans Stirn, als er sich daran erinnerte, daß er erst vor wenigen Stunden am Haus der Eldredges vorbeigekommen war. Die junge Familie hatte um den Frühstückstisch gesessen. Er hatte sie mit seinem eigenen Einsiedlerdasein verglichen und hatte sie beneidet.
Jetzt war ihr Leben zerstört. Es war für sie unmöglich, in einer so geschlossenen Gemeinschaft wie der hier am Kap zu bleiben. Denn sie wußten, daß, ganz gleich, wohin sie gingen, die Leute auf sie zeigen und reden würden. Jeder würde Nancy sofort wiedererkennen. Selbst er erinnerte sich noch daran, daß sie dieses Tweedkostüm getragen hatte. Es war noch gar nicht so lange her.
Plötzlich entsann sich Jonathan, wann das gewesen war. In Lowery’s Market. Er hatte Nancy zufällig getroffen, als er und sie ihre Einkäufe machten, und sie waren stehengeblieben und hatten sich ein paar Minuten lang unterhalten. Er hatte das Kostüm bewundert und ihr gesagt, daß es nichts Schöneres gebe als einen guten Tweed - und reine Wolle, natürlich. Der ganze synthetische Plunder sei dagegen ohne Tiefe und ohne Charakter.
Nancy hatte sehr hübsch ausgesehen. Ein gelbes Halstuch, mit einem saloppen Knoten am Hals, hatte den Gelbschimmer in dem überwiegend braunen und rostfarbenen Stoff noch verstärkt. Sie hatte gelächelt – ein
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