Wintersturm
dreingeschaut. »Ich habe nie genug Zeit«, hatte er gesagt. »Ich helfe meinem Vati, einen Tisch für mein Zimmer aufzuarbeiten; immer, wenn ich daran weiterarbeiten möchte, muß ich mich für die Schule fertigmachen.«
»Sie haben da einen ziemlich guten Gehilfen, Ray«, hatte Jack Wiggins bemerkt. »Ich bin jederzeit bereit, ihm einen Job zu geben; hört sich so an, als ob er zupacken könnte.«
Mike hatte die Pakete aufgehoben und gesagt: »Ich bin auch stark. Ich kann viel tragen. Ich kann auch meine Schwester ganz lange tragen.«
Ray ballte die Fäuste. Das hier war unwirklich, unmöglich.
Die Kinder verschwunden. Nancy unter Drogen. Was sagte sie gerade?
Ihre Stimme klang immer noch lebhaft und aufgeräumt.
»Vati nannte Mutter und mich immer seine Mädchen…«
Sie stockte.
»Was ist, Nancy?« fragte Dr. Miles. »Ihr Vater nannte Sie sein kleines Mädchen? Hat Sie das durcheinander gebracht?«
»Nein… nein… nein…, er nannte uns seine Mädchen. Es war anders… es war anders… überhaupt nicht so…« Ihre Stimme hob sich in heftigem Protest.
Lendon sprach beruhigend auf sie ein. »Schon gut, Nancy.
Regen Sie sich nicht auf. Reden wir über das College. Wollten Sie von zu Hause weg zur Schule?«
»Ja… ich wollte wirklich… nur… ich machte mir Sorgen wegen Mutter…«
»Warum machten Sie sich ihretwegen Sorgen?«
»Ich hatte Angst, daß sie einsam sein würde – wegen Vati…
und wir hatten das Haus verkauft; sie zog in ein Apartment. Für sie hatte sich so vieles geändert. Und sie hatte wieder angefangen zu arbeiten. Aber sie arbeitete gern… Sie sagte, sie wolle, daß ich gehe… Sie sagte immer, heute ist… heute…«
»Heute ist der erste Tag deines restlichen Lebens«, vollendete Lendon ruhig den Satz. Ja, Priscilla hatte das auch zu ihm gesagt. An dem Tag, als sie ins Büro kam, nachdem sie Nancy ins Flugzeug gesetzt hatte. Sie hatte ihm erzählt, daß sie noch dagestanden und Lebewohl gewunken habe, lange nachdem das Flugzeug zur Startbahn gerollt sei. Dann waren ihr Tränen in die Augen gestiegen, und sie hatte entschuldigend gelächelt. »Da sehen Sie, wie gefühlsduselig ich bin«, hatte sie gesagt und zu lachen versucht, »eine richtiggehende Glucke.«
»Ich finde Sie großartig«, hatte Lendon ihr erwidert.
»Es ist nur, wenn man bedenkt, wie schnell sich im Leben alles verändern kann… so unglaublich schnell. Ganz plötzlich ist ein ganzer Abschnitt, der wichtigste Abschnitt … vorbei.
Auf der anderen Seite denke ich jedoch, wenn man etwas ganz Wundervolles erlebt hat… und so glücklich gewesen ist… kann man nicht zurückblicken und traurig sein. Genau das habe ich Nancy heute gesagt … Ich möchte nicht, daß sie sich meinetwegen Sorgen macht. Ich möchte, daß sie auf dem College eine wundervolle Zeit erlebt. Ich habe ihr gesagt, daß wir beide immer an das Motto denken sollten: ›Heute ist der erste Tag unseres restlichen Lebens‹.«
Lendon erinnerte sich, daß ein Patient in die Praxis gekommen war. Damals hatte er es als ein Glück angesehen; er war in allergrößter Gefahr gewesen, seinen Arm um Priscilla zu legen.
»…aber alles war in Ordnung«, sagte Nancy gerade. Sie zögerte und suchte nach Worten. »Mutters Briefe klangen fröhlich. Sie hing an ihrer Arbeit. Sie schrieb eine Menge über Dr. Miles… Ich war froh…«
»Waren Sie gern auf dem College, Nancy?« fragte Lendon.
»Hatten Sie viele Freunde?«
»Anfangs. Ich mochte die Mädchen, und ich wurde oft eingeladen.«
»Wie stand es mit der Arbeit in der Schule? Gefielen Ihnen Ihre Fächer?«
»O ja. Sie waren leicht… außer Bio…«
Ihre Stimme schlug um – wurde besorgt. »Das war schwerer.
Naturwissenschaften habe ich nie gemocht… aber das College verlangte es… darum belegte ich es…«
»Und Sie lernten Carl Harmon kennen.«
»Ja. Er… wollte mir in Bio helfen. Er ließ mich in sein Büro kommen und ging meine Arbeit mit mir durch. Er sagte, ich hätte zu viele Verabredungen, und daß ich damit Schluß machen müßte, oder ich würde krank davon. Er war so besorgt… er gab mir dann sogar Vitamine. Er muß wohl recht gehabt haben… denn ich war so müde… so sehr… und fühlte mich allmählich so deprimiert… Ich vermißte meine Mutter…«
»Aber Sie wußten, daß Sie über Weihnachten zu Hause sein würden.«
»Ja… aber es hatte keinen Sinn… Ganz plötzlich… wurde es so schlimm… ich wollte sie nicht beunruhigen … deshalb habe ich nichts davon
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