Wintersturm
hinüber«, sagte sie zu John Kragopoulos, der anscheinend in Gedanken verloren war. Er nickte und faßte sie am Arm. Zusammen rannten sie los. Sie gaben sich keine Mühe, unter dem Mauervorsprung zu bleiben. Bei der zunehmenden Windstärke gab es einfach keinen Schutz gegen Graupel, der jetzt leicht mit Schnee vermischt war.
In der Garage schlängelte sich Dorothy zwischen dem Kombiwagen und ihrem Wagen hindurch und öffnete die Tür auf der Fahrerseite. Als sie sich langsam auf ihren Sitz gleiten ließ, blickte sie nach unten. Ein hellroter Stoffetzen auf dem Garagenboden fiel ihr ins Auge. Sie stieg wieder aus, bückte sich, hob ihn auf, sank dann in ihren Sitz zurück und preßte den Gegenstand an ihre Wange. Mit erschreckter Stimme fragte Kragopoulos: »Meine liebe Mrs. Prentiss, was ist denn los?«
»Der Handschuh!« schrie Dorothy. »Es ist Missys Handschuh. Sie hat ihn gestern angehabt, als ich mit ihr aus war und ihr ein Eis spendiert habe. Sie muß ihn im Wagen liegengelassen haben. Ich muß ihn herausgestoßen haben, als ich vorhin aus dem Wagen stieg. Sie hat immer ihre Handschuhe verloren. Sie hatte nie zwei Handschuhe an, die zueinander paßten. Wir haben uns darüber immer lustig gemacht. Und heute morgen fand man den anderen Handschuh an der Schaukel.« Dorothy begann zu schluchzen – mit einem trockenen, gepreßten Ton, den sie zu unterdrücken versuchte, indem sie den Handschuh an die Lippen hielt.
»Ich kann nicht viel dazu sagen«, meinte John Kragopoulos ruhig. »Aber ich möchte Sie daran erinnern, daß ein gnädiger und gütiger Gott sehr wohl Ihren Schmerz und die Qual der Eltern sieht. Er wird Sie in Ihrer Not nicht im Stich lassen. In dieser Beziehung bin ich irgendwie ganz zuversichtlich. Jetzt aber, bitte… Wäre es Ihnen nicht lieber, wenn ich mich ans Steuer setzte?«
»Bitte«, erwiderte Dorothy mit erstickter Stimme. Sie vergrub den Handschuh tief in ihrer Tasche und rutschte auf den anderen Sitz hinüber. Sie wollte nicht, daß Nancy oder Ray ihn sahen; es würde ihnen das Herz brechen. Oh, Missy, Missy! Sie hatte ihn ausgezogen, als sie gestern die Eiswaffel essen wollte. Sie sah es im Geist vor sich, wie sie ihn auf den Sitz fallen ließ. Oh, die armen kleinen Kinder.
John Kragopoulos war erleichtert, als er am Steuer saß. In dem Zimmer mit diesem scheußlichen Menschen hatte ihn eine große Unruhe überfallen. Der Mann hatte etwas Schmieriges und Abstoßendes an sich. Und dieser Geruch von Kinderpuder im Schlafzimmer, und dann dieses unglaubliche Spielzeug in der Wanne. Wie konnte sich ein erwachsener Mensch nur mit so etwas abgeben?
Oben im Haus stellte sich Parrish seitwärts zum Fenster und beobachtete den Wagen, bis er hinter einer Straßenkurve verschwunden war. Dann zog er mit zitternden Fingern den Schlüssel aus seiner Tasche und schloß die Tür des Wandschranks auf.
Der Junge war bei Bewußtsein. Das strohblonde Haar fiel ihm in die Stirn, und mit seinen großen blauen Augen blickte er stumm und voller Entsetzen zu ihm auf, den Mund immer noch fest verklebt und die Hände und Beine straff umwickelt.
Er stieß das Kind roh zur Seite und griff an ihm vorbei nach dem Mädchen. Er hob den schlaffen Körper heraus und legte sie aufs Bett – dann kreischte er auf, vor Wut und Verzweiflung, und starrte auf ihre geschlossenen Augen und ihr verzerrtes, blau angelaufenes Gesicht…
16
Nancys Hände ballten sich zusammen, öffneten sich wieder und zerrten an der Bettdecke. Behutsam nahm Lendon ihre Hand in seine eigenen, starken, wohlgeformten Hände. Vor Angst und innerer Erregung atmete sie nur mühsam und stoßweise. »Nancy, beruhigen Sie sich. Alle wissen hier, daß Sie Ihren Kindern nichts antun könnten. Das haben Sie doch gemeint, nicht wahr?«
»Ja… Ja… man denkt, ich könnte ihnen etwas antun. Wie könnte ich sie umbringen? Sie sind mein Fleisch und Blut. Ich bin mit ihnen gestorben…«
»In uns allen stirbt etwas, wenn wir Menschen verlieren, die wir lieben, Nancy. Gehen Sie mit mir in Gedanken zurück in die Zeit vor dem ganzen Unglück. Erzählen sie mir, wie es damals war, in Ohio, als Sie noch klein waren.«
»Als ich noch klein war?« Nancys Stimme verlor sich in ein Flüstern. Die Starre ihres Körpers fiel langsam von ihr ab.
»Ja, erzählen sie mir von Ihrem Vater. Ich habe ihn nie kennengelernt.«
Jed Coffin bewegte sich unruhig hin und her, und der Stuhl, auf dem er saß, knarrte auf dem Holzfußboden. Lendon warf ihm einen warnenden
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