Wintersturm
geschrieben… An einem Wochenende kam sie herüber… weil sie sich um mich Sorgen machte… Das weiß ich… Und dann verunglückte sie… weil sie herüberkam, um mich zu besuchen … Es war meine Schuld… meine Schuld…«
Ihre Stimme erhob sich zu einem Schmerzensschrei und erstarb dann in Schluchzen.
Ray fuhr in seinem Stuhl hoch, aber Jonathan zog ihn zurück. Das Licht der Öllampe flackerte auf Nancys Gesicht.
Es war von Schmerz verzerrt. »Mutter!« rief sie, »o Mutter…
bitte sei doch nicht tot… du mußt leben! O Mutter, bitte, bitte, lebe doch… Ich brauche dich… Mutter, sei doch nicht tot…
Mutter…«
Dorothy wandte ihren Kopf zur Seite und biß sich auf die Lippen, um ihre Tränen zurückzuhalten. Kein Wunder, daß Nancy wegen ihrer Bemerkung, daß sie für Missy und Michael eine Ersatzgroßmutter sei, verstimmt gewesen war. Was hatte sie hier zu suchen? Niemand nahm von ihrer Anwesenheit Notiz oder machte sich etwas daraus. Sie wäre nützlicher, wenn sie hinausginge und Kaffee kochte. Vielleicht mochte später auch Nancy einen Schluck. Sie sollte ihren Mantel ausziehen. Aber sie konnte es nicht. Sie fühlte sich so durchfroren; so allein.
Einen Augenblick lang starrte sie auf den gehäkelten Teppich und nahm wahr, wie das Muster vor ihren Augen verschwamm. Als sie den Kopf hob, begegnete sie dem unergründlichen Blick Jonathan Knowles und wußte sofort, daß er sie schon eine Zeitlang beobachtet hatte.
»… Carl half Ihnen, als Ihre Mutter starb. Er war gut zu Ihnen?« Warum zog Lendon Miles diese Qual nur in die Länge. Welch ein Sinn lag denn darin, Nancy auch das noch einmal durchleben zu lassen? Dorothy erhob sich langsam.
Nancys Antwort war ganz ruhig. »O ja. Er war so gut zu mir… Er kümmerte sich um alles.«
»Und Sie heirateten ihn.«
»Ja. Er sagte, er würde auf mich aufpassen. Und ich war so müde. Er war so gut zu mir…«
»Nancy, Sie dürfen sich keine Vorwürfe wegen des Unfalls Ihrer Mutter machen. Das war nicht Ihre Schuld.«
»Unfall?« grübelte Nancy. »Unfall? Aber das war kein Unfall. Es war gar kein Unfall…«
»Natürlich war es das.« Lendons Stimme blieb gelassen, aber er spürte, wie sich seine Muskeln am Hals spannten.
»Ich weiß nicht… Ich weiß nicht…«
»Schon gut; wir werden später darüber sprechen. Erzählen Sie uns von Carl.«
»Er war gut zu mir…«
»Das sagen Sie immer wieder, Nancy. In welcher Weise war er gut zu Ihnen?«
»Er kümmerte sich um mich. Ich war krank; er mußte so viel für mich tun…«
»Was hat er für Sie getan, Nancy?«
»Darüber will ich nicht sprechen.«
»Warum nicht, Nancy?«
»Ich will nicht. Ich will nicht…«
»Schon gut. Erzählen Sie uns von den Kindern. Von Peter und Lisa.«
»Sie waren so gut…«
»Sie waren sehr artig, meinen Sie das?«
»Sie waren so gut… zu gut…«
»Nancy, Sie sagen immer ›gut‹. Carl war so gut zu Ihnen.
Und die Kinder waren gut. Sie müssen sehr glücklich gewesen sein.«
»Glücklich? Ich war so müde…«
»Warum waren Sie so müde?«
»Carl sagte, ich wäre so krank. Er war so gut zu mir.«
»Nancy, Sie müssen uns das erzählen. In welcher Weise war Carl gut zu Ihnen?«
»Er tat alles, damit ich wieder gesund würde. Er wollte, daß ich wieder gesund würde. Er sagte, ich müßte ein artiges kleines Mädchen sein.«
»In welcher Weise fühlten Sie sich krank, Nancy? Was tat Ihnen weh?«
»So müde… immer so müde… Carl half mir…«
»Half Ihnen, wie?«
»Ich will darüber nicht sprechen.«
»Aber Sie müssen, Nancy. Was hat Carl getan?«
»Ich bin müde… Ich bin jetzt müde…«
»Schon gut, Nancy. Ich möchte, daß Sie sich jetzt ein paar Minuten ausruhen; dann werden wir uns noch ein bißchen unterhalten. Ruhen Sie sich aus… nur ausruhen …«
Lendon stand auf. Captain Coffin faßte ihn sofort am Arm und deutete mit dem Kopf zur Küche hinüber. Kaum hatten sie das Zimmer verlassen, sagte Captain Coffin schroff: »Die ganze Geschichte bringt uns nicht weiter. Das könnte Stunden so weitergehen, ohne daß Sie irgend etwas herausbekommen.
Die Frau macht sich Vorwürfe, wegen des Unfalls ihrer Mutter, weil ihre Mutter die Reise gemacht hatte, um sie zu besuchen.
So einfach ist das. Wenn Sie aber glauben, daß Sie doch noch irgend etwas über den Mordfall Harmon herausbekommen können, dann los. Oder ich nehme sie mit aufs Revier.«
»Das kann man nicht erzwingen… Sie beginnt doch zu sprechen… Es gibt da viele Dinge,
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