Wintersturm
des Polizeireviers. Captain Coffin war ein alter Bekannter, aber natürlich – der Captain war wahrscheinlich nicht da. Er war bestimmt in der Sache Eldredge unterwegs.
Am anderen Ende wurde der Hörer aufgenommen und eine Stimme sagte: »Polizeidirektion Adams Port, Sergeant Poler –«
Thurston unterbrach ihn ungeduldig. »Hier spricht Thurston Givens«, sagte er kurz angebunden. »Ich möchte Ihnen mitteilen, daß sich in dem Wald hinter meinem Haus jemand herumtreibt, der schleicht sich zur Bucht hinunter.«
28
Nancy saß aufrecht auf der Couch und blickte starr vor sich hin. Ray hatte das Feuer wieder angezündet, und die Flammen begannen an den dicken Zweigen und den abgebrochenen Aststücken zu lecken. Gestern. Es war doch erst gestern, oder nicht? Sie und Michael hatten vor dem Haus den Rasen geharkt.
»Das ist das letztemal, daß wir vor dem Winter diese Arbeit machen müssen, Mike«, hatte sie gesagt. »Ich glaube, jetzt sind alle Blätter unten.«
Er hatte ernsthaft genickt. Dann, ohne daß sie ihn dazu aufgefordert hatte, hatte er die größten Astbrocken und die dicksten Zweige aus dem Blätterhaufen herausgesucht. »Die sind gut fürs Feuer«, hatte er erklärt. Er hatte die eiserne Harke fallen lassen, und sie war so gefallen, daß die Metallzinken nach oben ragten. Aber als Missy über die Auffahrt gelaufen kam, hatte er die Harke schnell umgedreht. Mit einem entschuldigenden Lächeln hatte er bemerkt: »Vati sagt immer, es sei gefährlich, die Harke so liegen zu lassen.«
Missy gegenüber war er immer so behutsam und umsichtig.
Er war so lieb. Er war so wie Ray. In einer ganz unfaßbaren Weise lag ein gewisser Trost darin, daß Mike bei Missy war.
Wenn er die Möglichkeit dazu hatte, würde er auf sie achten.
Er war ein so umsichtiger kleiner Junge. Wenn sie jetzt irgendwo draußen wären, würde er darauf achten, daß an ihrer Jacke der Reißverschluß geschlossen war. Er würde versuchen, sie zu schützen. Er würde…
»O Gott.«
Erst als Ray erschreckt aufblickte, merkte sie, daß sie laut gesprochen hatte. Er saß in seinem großen Sessel. Sein Gesicht sah so überanstrengt aus. Er schien zu wissen, daß sie es nicht gern hatte, wenn er sie jetzt anfaßte - daß sie sich der Situation gemäß verhalten und ihre Lage bedenken mußte. Sie durfte nicht davon ausgehen, daß die Kinder tot waren. Es war nicht möglich. Sie mußten gefunden werden, ehe irgend etwas geschah.
Auch Dorothy beobachtete sie. Dorothy, die plötzlich so gealtert aussah und so verloren. Sie hatte Dorothy’s Zuneigung und Liebe hingenommen, ohne sie zu erwidern. Sie hatte sich Dorothy vom Leibe gehalten und ihr deutlich zu verstehen gegeben, daß sie sich nicht in ihren geschlossenen Familienkreis hineindrängeln sollte. Sie wollte nicht, daß die Kinder eine Ersatzgroßmutter hatten. Sie wollte nicht, daß irgend jemand an Mutters Stelle trat.
Ich bin egoistisch gewesen, dachte Nancy. Ich habe nicht ihre Not gesehen. Wie seltsam, daß ihr das jetzt so klar war.
Wie seltsam, jetzt daran zu denken, wo sie hier herumsaßen, so hilflos und ohnmächtig. Dann aber, was war es denn nur, was sie ein wenig beruhigte? Wieso fühlte sie einen kleinen Funken Hoffnung? Aus welcher Quelle schöpfte sie Trost?
»Rob Legler«, sagte sie. »Ich habe euch erzählt, daß ich heute morgen Rob Legler am See gesehen habe.«
»Ja«, sagte Ray.
»Ist es möglich, daß ich geträumt habe? Glaubt der Doktor, daß ich ihn gesehen habe – daß ich die Wahrheit gesagt habe?«
Ray überlegte einen Augenblick, entschloß sich dann aber, offen zu sein. In Nancy war eine Stärke, eine Direktheit, die nicht bereit war, Ausflüchte hinzunehmen.
»Ich glaube, der Doktor ist der Meinung, daß du eine genaue Darstellung des Geschehens gegeben hast. Und außerdem, Nancy, solltest du noch wissen, daß Rob Legler mit Sicherheit hier in der Nähe gesehen worden ist, gestern abend schon und heute morgen.«
»Rob Legler würde den Kindern nichts antun.« Ihre Stimme klang sehr sachlich und bestimmt. Das also war die Ursache ihrer Erleichterung. »Wenn er sie mitgenommen hat, wenn er das getan hat, er würde ihnen nichts antun. Da bin ich ganz sicher.«
Lendon kam ins Zimmer zurück. Jonathan dicht hinter ihm.
Jonathan merkte, daß er unwillkürlich zu Dorothy hinüberblickte. Sie hatte die Hände tief in ihren Taschen vergraben, und er vermutete, daß sie zu Fäusten geballt waren.
Er hatte sie immer als eine bemerkenswert tüchtige und
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