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Wintersturm

Titel: Wintersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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unabhängige Person angesehen – Eigenschaften, die er bewunderte, die aber, wie er fand, eine Frau nicht unbedingt begehrenswerter machten.
    Wenn Jonathan sich selbst gegenüber ehrlich war, dann erkannte er deutlich, daß das Bewußtsein, daß Emily ihn brauchte, stets ein wesentliches Element seiner Beziehung zu ihr gewesen war. Sie hatte nie vermocht, einen Verschluß von einem Glas zu schrauben oder ihre Wagenschlüssel zu finden oder ihr Scheckkonto auszugleichen. Er hatte sich immer in seiner Rolle als nachsichtiger und handwerklich geschickter Ehemann gesonnt, der ständig etwas befestigte, etwas unternahm oder meisterte. Erst in den vergangenen zwei Jahren war ihm allmählich bewußt geworden, daß er die eiserne Willenskraft im Innersten ihrer Frauennatur nie erfaßt hatte: die Art und Weise, wie sie das Verdikt des Arztes hingenommen hatte – nur ein kurzer teilnahmsvoller Blick für ihn. Nicht ein einziges Mal hatte sie zugegeben, daß sie Schmerzen litt. Jetzt, wo er Dorothy vor sich sah, wo ihr stummer Schmerz so deutlich fühlbar war, drängte es ihn sehr, sie irgendwie zu trösten.
    Eine Frage von Ray hielt ihn davon ab: »Was war das für ein Anruf?«
    »Captain Coffin ist hinausgegangen«, erwiderte Jonathan ausweichend.
    »Es ist alles in Ordnung. Nancy weiß, daß Rob Legler hier in der Nähe gesehen wurde.«
    »Seinetwegen ist der Captain weggefahren. Legler wurde verfolgt, und er verließ drei Kilometer weiter unten an der 6 A einen Wagen, den er gestohlen hat. Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Bei diesem Wetter kommt er zu Fuß nicht weit.«
    »Wie fühlen Sie sich, Nancy?« Lendon betrachtete sie aufmerksam. Sie war gefaßter, als er erwartet hatte.
    »Ich fühle mich gut. Ich habe viel über Carl geredet, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Es gab da etwas, woran ich mich zu erinnern suchte; etwas Wichtiges, das ich Ihnen sagen wollte.«
    Lendon behielt den nüchtern sachlichen Ton bei. »Sie sagten ein paarmal ›Ich glaube nicht… Ich glaube nicht…‹ Wissen Sie, warum Sie das immer wieder sagten?«
    Nancy schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie stand auf und ging voller Unruhe zum Fenster hinüber. »Es ist so dunkel, es wird sehr schwer sein, jetzt noch irgend etwas oder irgend jemanden zu finden.«
    Es war angenehm, sich zu bewegen. Sie wollte einen klaren Kopf bekommen, um nachdenken zu können. Sie schaute an sich herab und bemerkte zum erstenmal, daß sie noch immer den weichen wollenen Morgenrock trug. »Ich will mich umziehen«, sagte sie, »möchte mich anziehen.«
    »Möchten Sie…?« Dorothy biß sich auf die Lippen. Sie hatte Nancy gerade fragen wollen, ob sie möchte, daß sie mit ihr nach oben ginge.
    »Ich komme schon zurecht«, sagte Nancy freundlich. Sie würden Rob Legler bald finden. Sie war sich dessen ganz sicher. Wenn es soweit war, wollte sie angezogen sein. Sie wollte zu ihm gehen, ganz gleich, wohin man ihn brachte. Sie wollte zu ihm sagen: ›Rob, ich weiß, daß Sie den Kindern nichts antun würden. Wollen Sie Geld? Was brauchen Sie?
    Sagen Sie mir, wo die Kinder sind, dann gebe ich Ihnen alles, was Sie haben wollen. ‹
    Oben im Schlafzimmer zog sie den Morgenrock aus.
    Gewohnheitsgemäß ging sie zum Wandschrank hinüber und hängte ihn hinein. Einen Moment lang fühlte sie sich benommen und lehnte sich mit der Stirn gegen die kühle Wand. Die Schlafzimmertür öffnete sich, und sie hörte, wie Ray rief: »Nancy!« Seine Stimme klang bestürzt, als er zu ihr hinüberhastete, sie zu sich umdrehte und in die Arme schloß.
    Sie spürte, wie sein Sporthemd warm auf ihrer Haut kratzte und seine Umarmung immer fester wurde.
    »Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte sie. »Bestimmt…«
    »Nancy!« Er hob ihr Kinn empor und preßte seinen Mund auf ihre Lippen. Als sich ihre Lippen voneinander lösten, schmiegte sie sich eng an ihn.
    Es war von Anfang an so gewesen. Von jenem ersten Abend an, als er zum Dinner gekommen war und sie anschließend zum See hinabspaziert waren. Es war kühl gewesen, und sie hatte gefröstelt. Sein Mantel war offen gewesen, und er hatte gelacht und sie an sich gezogen und den Mantel so herumgeschlagen, daß er sie beide einhüllte. Als er sie damals zum erstenmal küßte, war es so ganz selbstverständlich gewesen. Sie hatte sich ganz zu ihm hingezogen gefühlt, von Anfang an. Nicht wie bei Carl… der arme Carl… sie hatte ihn nur hingenommen; sie hatte sich schuldig gefühlt, weil sie ihn nicht begehrte, und nachdem Lisa geboren war,

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