Winterträume
Duft eines eleganten Balls.
Sie stellte sich ihr eigenes Aussehen vor. Die bloßen Arme und die Schultern waren cremeweiß gepudert. Ihr war bewusst, dass sie äußerst grazil erschienen und sich milchzart von all den schwarzen Rücken abheben würden, vor deren Hintergrund sie heute Abend Wirkung entfalten sollten. Der Friseurbesuch war ein Erfolg gewesen; ihr volles rötliches Haar war zu einem hochmütig wippenden, kurvenreichen, schwungvoll geknifften und geknoteten Wunderwerk aufgetürmt. Ihre Lippen waren akkurat karminrot nachgezogen, ihre Augen von einem feinen, geradezu zerbrechlichen Blau, wie Porzellanaugen. Ihre Schönheit war vollendet, namenlos graziös, beinah vollkommen, und bildete eine weich fließende Linie von der raffinierten Frisur bis hinab zu den schmalen kleinen Füßen.
Sie dachte daran, was sie heute Abend sagen würde bei diesem ausgelassenen Fest, das seine Schatten schon vorauswarf in Gestalt von glockenhellem oder auch sonorem Lachen, Tanzschuhgetrippel und paarweisem Auf-und-ab-Gewoge auf den Treppen. Sie würde in derselben Sprache sprechen wie seit vielen Jahren – in ihrem gewohnten Stil – die gängigen Redensarten, garniert mit ein paar Brocken Zeitungsjargon und etwas Collegeslang, verflochten zu einem geschlossenen Ganzen, lässig, leicht provokant, verhalten sentimental. »Ach, Schätzchen, du weißt ja noch nicht mal die Hälfte!«, hörte sie ein junges Mädchen sagen, das neben ihr auf der Treppe saß, und musste leise lächeln.
Und während sie so lächelte, vergaß sie für einen Moment ihren Ärger, schloss die Augen und atmete tief und genüsslich durch. Sie ließ die Arme sinken, so dass sie leicht das glatte Futteral berührten, das ihre Figur verbarg und gleichzeitig erahnen ließ. Nie hatte sie so sehr gespürt, wie ungemein grazil sie war, nie hatte sie die Weiße ihrer Arme so genossen.
›Ich riech so gut‹, sagte sie sich ganz umstandslos – und dann kam ihr gleich noch ein anderer Gedanke: ›Ich bin geschaffen für die Liebe.‹
Der Gedanke gefiel ihr so gut, dass sie ihn gleich noch einmal dachte, und plötzlich wurde sie, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte, von einem ganzen Geschwader frisch erwachter Wunschträume überrannt, die sich allesamt ganz allein um Gordon drehten. Der Streich, den ihre Phantasie ihr vor zwei Monaten gespielt hatte, diese Vorspiegelung, dass sie sich insgeheim danach verzehre, ihn wiederzusehen, dieser Streich schien sie nun geradewegs hierhergeführt zu haben, auf diesen Ball, zu dieser Stunde.
Denn ungeachtet ihrer makellosen Schönheit war Edith doch ein ernstes Mädchen und pflegte gründlich nachzudenken. Mit ihrem Bruder verband sie nicht allein der Hang zum Grübeln, sondern auch der jugendliche Idealismus, also just die beiden Eigenschaften, die jenen zum Sozialisten und Pazifisten gemacht hatten. Henry Bradin war aus Cornell, wo er Wirtschaftswissenschaften gelehrt hatte, fortgegangen und nach New York gekommen, um dort in den Spalten einer radikalen Wochenzeitschrift die neusten Heilmittel für allerlei unheilbare Übel feilzubieten.
Edith, die nicht so einfältig war wie ihr Bruder, hätte sich schon damit begnügt, Gordon Sterrett zu heilen. Gordon war ein wenig willensschwach – ein Zug, dessen sie sich gerne angenommen hätte, und er hatte so etwas Hilfloses, was in ihr den Drang wachrief, ihn zu beschützen. Und außerdem wünschte sie sich einen, den sie schon seit langem kannte, einen, der sie schon seit langem liebte. Sie war es langsam leid; sie wollte endlich heiraten. Ein Stapel Briefe, ein halbes Dutzend Fotos, genauso viele Erinnerungen und eben, dass sie es leid war: Dies alles hatte sie zu dem Schluss gelangen lassen, dass ihre Beziehung zu Gordon beim nächsten Wiedersehen eine neue Wendung nehmen müsse. Sie wollte etwas sagen, wodurch sich alles ändern würde. Und da war er nun, dieser Abend. Es war ihr Abend. Jeder Abend war ihr Abend.
Mitten in diese Gedanken hinein platzte ein düster dreinblickender Studiosus mit beleidigter Miene und angestrengt förmlichem Gehabe, der vor sie hintrat und einen ungewöhnlich tiefen Diener machte. Es war Peter Himmel – der Mann, mit dem sie hergekommen war. Er war ein hochgewachsener, lustiger Bursche mit einer Hornbrille, schrullig, aber durchaus attraktiv. Sie konnte ihn auf einmal nicht mehr leiden – wahrscheinlich, weil er es nicht geschafft hatte, sie zu küssen.
»Na«, sagte sie, »immer noch wütend auf mich?«
Ȇberhaupt
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