Winterträume
Gordon; er hielt sie fest im Arm, sie spürte, wie verkrampft und angespannt er war, sie spürte seine rechte Hand in ihrem Rücken, die gespreizten Finger. Und wie er mit der Linken ihre Hand beinah zerquetschte, in der sie das Spitzentüchlein hielt.
»Ach, Gordon«, begann sie atemlos.
»Hallo, Edith.«
Abermals rutschte sie aus und konnte sich gerade noch fangen, wurde aber aus der Bewegung heraus nach vorn geschleudert, so dass ihr Gesicht das schwarze Tuch seines Abendanzugs berührte. Sie liebte ihn – sie wusste, dass sie ihn liebte. Dann schwiegen sie einen Moment, und da verspürte sie auf einmal so ein merkwürdiges Unbehagen. Irgendetwas stimmte nicht.
Und dann krampfte sich ihr Herz schmerzhaft zusammen, und sie begriff, was mit ihm los war. Er war in einem jämmerlichen Zustand, ein richtiges Häufchen Elend, leicht betrunken und zum Umfallen müde.
»Oh –«, rief sie unwillkürlich.
Er blickte zu ihr hinunter. Und da sah sie seine wild rollenden, rotgeäderten Augen.
»Komm mit, Gordon«, sagte sie leise, »komm, wir setzen uns; ich möchte mich hinsetzen.«
Sie waren fast in der Mitte des Parketts, doch Edith, die gesehen hatte, wie von den beiden entgegengesetzten Enden des Saales her zwei Männer auf sie zugeschossen kamen, blieb stehen, griff nach Gordons schlaffer Hand und schob sich mit ihm durchs Gedränge. Sie hatte die Lippen fest zusammengepresst, ihr Gesicht war ein bisschen blass unter dem Rouge, und in ihren Augen glänzten Tränen.
Sie fand einen Platz ganz oben auf der mit einem weichen Läufer belegten Treppe, wo er sich schwer neben ihr niederplumpsen ließ.
»Weißt du, Edith«, fing er an und musterte sie mit unstetem Blick, »ich bin wirklich froh, dass ich dich sehe.«
Sie schaute ihn an, ohne etwas zu erwidern. Die Wirkung, die das alles auf sie hatte, war ganz ungeheuerlich. Im Laufe der Jahre hatte sie eine Menge Männer in den verschiedensten Stadien der Trunkenheit erlebt, angefangen bei ihren Onkeln bis hinunter zu den Chauffeuren, und bei manchen hatte sie es amüsant gefunden, bei manchen hatte es sie abgestoßen, nun aber packte sie zum ersten Mal im Leben ein ganz neues Gefühl – ein namenloses Grauen.
»Gordon«, sagte sie vorwurfsvoll und war den Tränen nah, »du siehst aus wie der Teufel.«
Er nickte. »Ich bin in Schwierigkeiten, Edith.«
»Was denn für Schwierigkeiten?«
»Alle möglichen Schwierigkeiten. Sag bloß nichts der Familie, Edith, aber ich bin total erledigt. Ich bin am Ende.«
Gordon ließ den Mund leicht offen stehen. Er schien sie gar nicht richtig wahrzunehmen.
»Kannst du… kannst du…?« Sie zögerte. »Kannst du mir nicht erzählen, was passiert ist, Gordon? Du weißt doch, du bist mir noch nie gleichgültig gewesen.«
Sie biss sich auf die Unterlippe – eigentlich hatte sie noch deutlicher werden wollen, hatte aber dann gemerkt, dass sie es doch nicht fertigbrachte.
Gordon schüttelte benommen den Kopf. »Ich kann dir’s nicht erzählen. Du bist ’ne anständige Frau, und ’ner anständigen Frau kann ich diese Geschichte nicht erzählen.«
»Unsinn«, sagte sie trotzig. »Das ist ja regelrecht beleidigend, jemanden in dieser Weise als anständige Frau zu bezeichnen. Ein Schlag ins Gesicht ist das. Du hast getrunken, Gordon.«
»Vielen Dank auch.« Er senkte bedeutungsschwer den Kopf. »Vielen Dank, dass du mir das sagst.«
»Warum trinkst du?«
»Weil’s mir so verdammt elend geht.«
»Ach, und du glaubst, vom Trinken wird es besser?«
»Was soll denn das – willst du mich umkrempeln?«
»Nein, Gordon; ich will dir helfen. Kannst du mir nicht einfach sagen, was los ist?«
»Ich sitz ganz furchtbar in der Tinte. Am besten tust du so, als ob wir uns gar nicht kennen.«
»Aber wieso denn, Gordon?«
»Entschuldige, dass ich dich abgeklatscht hab – das ist nicht fair dir gegenüber. Du bist ’ne unbescholtene Frau… und alles. Warte, ich besorg dir ’n andern Tänzer.«
Er stand unbeholfen auf, doch sie griff nach seiner Hand und zog ihn wieder zu sich herunter.
»Menschenskinder, Gordon, du machst dich lächerlich. Du beleidigst mich. Du führst dich auf wie ein… wie ein Verrückter –«
»Ich geb’s ja zu. Ich bin ein bisschen verrückt. Mit mir stimmt was nicht, Edith. Ich hab sie nicht mehr alle, irgendwie. Aber lass, ist nicht so wichtig.«
»Doch, Gordon, erzähl’s mir.«
»Ganz einfach. Bin doch immer schon ’n komischer Kauz gewesen – bisschen anders als die andern Jungs. Aufm
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