Winterträume
Sie denken, begabt, wortgewandt, wahrscheinlich noch recht jung. In den Kostproben, die Sie von seinem Werk gefunden hätten, wäre nichts gewesen, was mehr als ein vages Interesse an den Kapriolen des Lebens in Ihnen ausgelöst hätte – kein tiefes inneres Lachen, kein Gefühl von Vergeblichkeit, keine Spur von Tragik.
Nach der Lektüre würden Sie gähnen, die Zeitschrift wieder ins Archiv zurücklegen und, falls Sie sich im Lesesaal einer Bibliothek befänden, vielleicht beschließen, zur Abwechslung einen Blick in eine Tageszeitung jener Epoche zu werfen, um in Erfahrung zu bringen, ob die Japaner zu der Zeit bereits Port Arthur erobert hatten. Wenn die von Ihnen gewählte Zeitung nun zufällig die richtige wäre und sich knisternd auf der Theaterseite geöffnet hätte, würden Ihre Augen gefesselt, und für mindestens eine Minute hätten Sie Port Arthur vergessen, ebenso schnell wie seinerzeit Château Thierry. Denn dank dieses glücklichen Zufalls hätten Sie nun das Porträt einer herrlichen Frau vor sich.
Es war die Zeit von Florodora und singenden Sextetts, von eingeschnürten Taillen und ausgepufften Ärmeln, von nicht ganz echten Turnüren und ganz und gar echten Tutus, doch hier, und sei es auch verborgen unter einem ungewohnt steifen und altmodischen Kostüm, hier war ohne Zweifel der Inbegriff eines Schmetterlings. Hier war die Ausgelassenheit der Zeit – der weiche Wein der Augen, die Lieder, die das Herz erschauern ließen, die Toasts und Buketts, die Bälle und Diners. Hier war eine Venus des Hansom Cab, das Gibson Girl in seiner schönsten Blüte. Hier war…
Hier war, wie Ihnen die Bildunterschrift verrät, eine gewisse Roxanne Milbank, einst Revuetänzerin und Zweitbesetzung in The Daisy Chain, bis sie dank eines fabelhaften Auftritts in Vertretung des indisponierten Stars eine Hauptrolle bekam.
Sie würden noch einmal hinsehen – und stutzen. Warum hatten Sie nie von ihr gehört? Warum hatte ihr Name nicht neben Lillian Russell und Stella Mayhew und Anna Held in Schlagern und Vaudeville-Witzen, auf Zigarrenbändern und in der Erinnerung Ihres lebenslustigen alten Onkels überdauert? Roxanne Milbank – wohin war sie verschwunden? Welche dunkle Falltür hatte sich da plötzlich aufgetan und sie verschluckt? Ihr Name stand jedenfalls nicht in der letzten Sonntagsbeilage auf jener Liste von Schauspielerinnen, die einen englischen Adligen geehelicht hatten. Bestimmt war sie tot – arme, schöne junge Dame – und schon so gut wie vergessen.
Ich erhoffe mir zu viel. Lasse Sie hier über Jeffrey Curtains Geschichten und Roxanne Milbanks Foto stolpern. Es wäre unglaublich, wenn Sie nun auch noch auf eine sechs Monate später erschienene Zeitungsnotiz stoßen würden, eine Kurzmeldung auf fünf mal zehn Zentimetern, die der Öffentlichkeit mitteilte, dass Miss Roxanne Milbank, die mit The Daisy Chain auf Tournee gewesen sei, in aller Stille den bekannten Schriftsteller Mr. Jeffrey Curtain geheiratet habe. »Mrs. Curtain«, hieß es nüchtern, »wird sich von der Bühne zurückziehen.«
Es war eine Liebesheirat. Er war verdorben genug, um charmant, sie naiv genug, um unwiderstehlich zu sein. Wie zwei Baumstämme im Fluss trieben sie aufeinander zu, verhakten sich und setzten ihren Weg gemeinsam fort. Doch selbst wenn Jeffrey Curtain noch weitere vierzig Jahre geschrieben hätte – eine seltsamere Kapriole, als sie sein Leben schlug, hätte er in keine seiner Geschichten einbauen können. Und wenn Roxanne Milbank in drei Dutzend Theaterstücken mitgespielt und fünftausend Häuser gefüllt hätte, so hätte sie doch keine mit mehr Glück und Verzweiflung verbundene Rolle besetzen können als jene, die das Schicksal für Roxanne Curtain vorgesehen hatte.
Ein Jahr lang lebten sie in Hotels, reisten nach Kalifornien, Alaska, Florida, Mexiko, liebten und stritten sich zärtlich und sonnten sich im goldenen Getändel seines Geistes mit ihrer Schönheit – sie waren jung und voll tief empfundener Leidenschaft; sie forderten alles, um es dann in Ekstasen der Selbstlosigkeit und des Stolzes wieder herzugeben. Sie liebte den flinken Ton seiner Stimme und seine rasende, unbegründete Eifersucht. Er liebte ihr dunkles Leuchten, die weiße Iris ihrer Augen, den warm schimmernden Enthusiasmus in ihrem Lächeln.
»Ist sie nicht herrlich?«, pflegte er die anderen aufgeregt und zugleich schüchtern zu fragen. »Ist sie nicht einfach wunderbar? Habt ihr je eine so…«
»Ja«, antworteten sie grinsend.
Weitere Kostenlose Bücher