Winterträume
knappen Zwischenbemerkungen der Männer und dem Geplapper der Frauen, das wie weicher Rauch vom Tisch aufstieg – und hörte doch beides kaum. Dann streckte sie ganz arglos die Hand aus, um sie Jeffrey auf die Schulter zu legen – als sie ihn berührte, zuckte er zusammen, stieß ein barsches Grunzen aus und riss wütend den Arm nach hinten, wobei er ihren Ellbogen streifte.
Ein allgemeines Keuchen war zu hören. Roxanne erlangte ihr Gleichgewicht wieder, stieß einen kurzen Schrei aus und sprang von der Armlehne. Das war der größte Schock ihres Lebens gewesen: eine so instinktiv brutale Geste ausgerechnet von Jeffrey, dem Inbegriff der Gutherzigkeit und Rücksicht.
Auf das Keuchen folgte Stille. Ein Dutzend Augenpaare waren auf Jeffrey gerichtet, der seinerseits aufblickte, als sähe er Roxanne zum allerersten Mal. Ein verwirrter Ausdruck trat in sein Gesicht.
»Aber, Roxanne…«, sagte er stockend.
Blitzartig entstand in einem Dutzend Köpfen ein Verdacht, das Gerücht von einem Skandal. War es möglich, dass bei diesem so verliebt wirkenden Paar irgendeine sonderbare Feindseligkeit hinter den Kulissen lauerte? Woher sonst dieser Feuerstreif an einem so wolkenlosen Himmel?
»Jeffrey!«, bat Roxannes Stimme ihn inständig; bei allem Schreck und Entsetzen wusste sie doch, dass es ein Irrtum war. Keine Sekunde lang dachte sie daran, ihn zu beschuldigen oder ihm böse zu sein. Ihr Ausruf war ein banges Flehen – »Erklär’s mir, Jeffrey«, besagte es, »erklär es Roxanne, deiner Roxanne.«
»Aber Roxanne –«, begann Jeffrey erneut. Sein verwirrter Gesichtsausdruck verwandelte sich in Schmerz. Er war ohne Frage genauso erschrocken wie sie. »Das wollte ich nicht«, sagte er. »Du hast mich erschreckt. Du – ich hatte das Gefühl, als würde mich jemand angreifen. Ich – was – Herrgott noch mal, wie idiotisch!«
»Jeffrey!« Erneut war ihr Ausruf ein Gebet, Weihrauch, der einer hohen Gottheit durch dieses neue, unergründliche Dunkel hindurch dargebracht wurde.
Schon waren sie auf den Beinen und verabschiedeten sich, stammelten, entschuldigten sich, lieferten Erklärungen. Keiner von beiden machte den Versuch, es leichthin abzutun. Das wäre einem Sakrileg gleichgekommen. Jeffrey sei es in letzter Zeit nicht gutgegangen, sagten sie. Er sei nervöser geworden. Beiden saß der Schreck über den unerklärten Schlag noch in den Gliedern – das Erstaunen darüber, dass für einen Moment etwas zwischen sie gekommen war, nämlich seine Wut und ihre Angst, und nun eine Traurigkeit, die zwar gewiss vorübergehend war, aber überbrückt werden musste, sofort, solange noch Zeit war. War das reißende Wasser, das ihnen da um die Füße peitschte, das grimmige Aufblitzen eines nirgends verzeichneten Abgrunds?
Draußen im Wagen unter dem Herbstmond fing er stockend an zu reden. Es sei ihm einfach – unbegreiflich, sagte er. Er habe an das Pokerspiel gedacht – sei ganz darin versunken gewesen –, und die Berührung an seiner Schulter habe auf ihn wie ein Angriff gewirkt. Ein Angriff! Er klammerte sich an dieses Wort, riss es hoch wie einen Schild. Was ihn da berührt habe, sei ihm entsetzlich gewesen. Als seine Hand sie getroffen habe, sei es verschwunden – jenes nervöse Gefühl. Mehr wisse er auch nicht.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie flüsterten Liebesworte dort in der weiten Nacht, während die friedlichen Straßen von Marlowe an ihnen vorbeizogen. Später, beim Zubettgehen, waren sie ganz ruhig. Jeffrey solle sich eine Woche freinehmen – einfach mal nichts tun und schlafen und lange Spaziergänge machen, bis dieses nervöse Gefühl von ihm wich. Nachdem sie das beschlossen hatten, fühlte sich Roxanne allmählich sicherer. Die Kissen unter ihrem Kopf wurden weich und freundlich; das Bett, auf dem sie lagen, schien breit und weiß und sehr stabil unter den Strahlen, die zum Fenster hereinströmten.
Fünf Tage später, in den ersten kühlen Minuten des Spätnachmittags, packte Jeffrey einen Eichenstuhl und warf ihn mit aller Wucht durch das Fenster auf der Vorderseite seines eigenen Hauses. Danach legte er sich wie ein Kind aufs Sofa, weinte kläglich und wollte nur noch sterben. In seinem Gehirn hatte sich ein Blutgerinnsel von der Größe einer Murmel gebildet.
III
Es gibt eine Art Wach-Alptraum, der einen bisweilen heimsucht, wenn man ein oder zwei Nächte Schlaf versäumt hat, ein mit extremer Müdigkeit und einer neuen Sonne aufkommendes Gefühl, dass die Qualität des
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