Winterträume
mehr?«
»Nun ja…«
Zong! Das erste Biskuit war an die Wand gespießt, wo es einen Augenblick lang zitterte wie ein lebendiges Wesen.
Zong!…
Als Roxanne mit einer zweiten Runde Cocktails zurückkehrte, hingen die Biskuits, zwölf an der Zahl, wie eine Sammlung primitiver Speerspitzen in einer waagerechten Reihe.
»Roxanne«, rief Jeffrey, »du bist eine Künstlerin! Kochen und Backen? Was für ein Unsinn! Du wirst meine Bücher illustrieren!«
Während des Abendessens wich das Zwielicht der Dunkelheit, und später herrschte eine sternenklare Finsternis, erfüllt und durchdrungen von der zarten Pracht des weißen Kleids, das Roxanne trug, und ihrem bebenden, leisen Lachen.
›Was für ein kleines Mädchen sie doch ist‹, dachte Harry. ›Nicht so alt wie Kitty.‹
Er verglich die beiden miteinander. Kitty – nervös, ohne empfindsam zu sein, launenhaft und doch nie ausgelassener Laune, eine Frau, die Funken warf, aber nie Feuer zu fangen schien – und Roxanne, jung wie die Frühlingsnacht, die Quintessenz ihres eigenen jugendlichen Lachens.
›Sie passt gut zu Jeffrey‹, dachte er weiter. ›Zwei sehr junge Menschen, die sehr jung bleiben werden, bis sie mit einem Mal merken, dass sie alt geworden sind.‹
All das dachte Harry zwischen seinen ewigen Gedanken an Kitty. Er war niedergeschlagen ihretwegen. Seiner Meinung nach hätte sie inzwischen wieder kräftig genug sein müssen, um mit seinem kleinen Sohn nach Chicago zurückzukommen. Auch als er seinem Freund und dessen Frau am Fuß der Treppe eine gute Nacht wünschte, dachte er vage an Kitty.
»Du bist unser erster richtiger Hausgast«, rief Roxanne ihm nach. »Macht dich das nicht froh und stolz?«
Als er um die Treppenbiegung verschwunden war, wandte sie sich Jeffrey zu, der neben ihr stand und sich mit einer Hand auf das Geländer stützte.
»Bist du müde, mein Liebster?«
Jeffrey rieb sich mit den Fingern die Stirn.
»Ein wenig. Woher weißt du das?«
»Ach, wie könnte ich es nicht wissen!«
»Ich habe Kopfschmerzen«, sagte er missgelaunt. »Rasende Kopfschmerzen. Ich werde ein paar Aspirin nehmen.«
Sie streckte sich und knipste das Licht aus, und gemeinsam, sein Arm fest um ihre Taille gelegt, stiegen sie die Treppe hinauf.
II
Die Woche mit Harry verging. Sie fuhren durch verträumte Gassen oder frönten auf Wiese oder See dem heiteren Müßiggang. Am Abend spielte Roxanne ihnen drinnen etwas vor, während die Asche an den glühenden Enden ihrer Zigarren weiß wurde. Dann traf ein Telegramm von Kitty ein, in dem sie Harry bat, er möge kommen und sie abholen, und so blieben Roxanne und Jeffrey allein in ihrer Zweisamkeit, deren sie nie müde zu werden schienen.
Dieses »allein« elektrisierte sie wieder. Wenn sie durchs Haus gingen, spürten sie mit jeder Faser die Gegenwart des anderen; wie ein frisch verheiratetes Paar saßen sie nebeneinander am Tisch, ganz ineinander versunken, vollkommen glücklich.
Marlowe war zwar ein vergleichsweise alter Ort, doch eine »Gesellschaft« wies er erst seit kurzem auf. Vor fünf, sechs Jahren waren zwei oder drei junge Ehepaare, »Bungalow-Menschen«, vom qualmenden Anschwellen der Stadt beunruhigt, aus Chicago weggezogen; ihre Freunde waren ihnen gefolgt. Die Curtains fanden einen etablierten »Kreis« vor, der alle Voraussetzungen besaß, sie willkommen zu heißen: Countryclub, Ballsaal und Golfplatz, Bridgeabende und Pokerabende, Partys, auf denen Bier, und solche, auf denen gar nichts getrunken wurde.
Es war ein Pokerabend, an dem sie eine Woche nach Harrys Abreise teilnahmen. Gespielt wurde an zwei Tischen, und etliche der jungen Ehefrauen rauchten und riefen laut ihre Einsätze und benahmen sich für die damalige Zeit auf höchst verwegene Weise männlich.
Roxanne hatte sich schon bald vom Spiel zurückgezogen und spazierte umher; sie schlenderte in den Anrichteraum, wo sie sich ein wenig Traubensaft nahm – von Bier bekam sie Kopfschmerzen –, und wanderte dann zwischen den Tischen hin und her, wobei sie den Spielern über die Schulter ins Blatt schaute, Jeffrey im Auge behielt und sich angenehm unaufgeregt und wohl fühlte. Jeffrey häufte mit größter Konzentration Jetons in allen Farben an, und Roxanne sah an der tiefen Falte zwischen seinen Augen, dass er mit Interesse dabei war. Sie freute sich, wenn er bei kleinen Dingen Interesse zeigte.
Leise ging sie zu ihm hinüber und setzte sich auf die Armlehne seines Stuhls.
Dort saß sie fünf Minuten lang, lauschte den
Weitere Kostenlose Bücher