Winterträume
Lebens um einen herum sich verändert habe. Es ist die klare Überzeugung, dass das Dasein, welches man gerade führt, auf gewisse Art ein Seitentrieb des Lebens und mit diesem nur wie ein Film oder ein Spiegel verbunden ist – weswegen die Menschen und Straßen und Häuser also lediglich Projektionen aus einer sehr verschwommenen und chaotischen Vergangenheit sind. In einem solchen Zustand befand sich Roxanne in den ersten Monaten von Jeffreys Krankheit. Sie schlief nur, wenn sie vollkommen erschöpft war, und erwachte stets wie unter einer Wolke. Die langen, sachlich abgehaltenen Konsultationen, der leichte Dunst von Arzneimitteln in den Fluren, das plötzliche Herumschleichen auf Zehenspitzen in einem Haus, das früher von fröhlichen Schritten widergehallt hatte, und am allermeisten Jeffreys weißes Gesicht zwischen den Kissen des Bettes, das sie geteilt hatten – all dies überwältigte sie und machte sie unwiderruflich älter. Die Ärzte hatten Hoffnung, aber das war auch alles. Eine lange Erholungspause, sagten sie, und Ruhe. Und so trug jetzt Roxanne die Verantwortung. Sie war es, die die Rechnungen bezahlte, sich über seine Sparbücher beugte, mit seinen Verlegern korrespondierte. Sie stand unentwegt in der Küche. Von der Krankenschwester lernte sie, seine Mahlzeiten zuzubereiten, und nach einem Monat übernahm sie die gesamte Krankenpflege. Die Schwester hatte sie aus finanziellen Gründen entlassen müssen. Eins der beiden farbigen Mädchen ging zur selben Zeit. Roxanne wurde bewusst, dass sie von Kurzgeschichte zu Kurzgeschichte gelebt hatten.
Der häufigste Besucher war Harry Cromwell. Die Nachricht hatte ihn bestürzt und deprimiert, und obwohl seine Frau inzwischen wieder bei ihm in Chicago war, fand er Zeit, mehrmals im Monat aufs Land zu kommen. Roxanne war für seine Anteilnahme dankbar – der Mann besaß eine Art Leidensfähigkeit, ein angeborenes Mitgefühl, das ihr wohltat. Roxannes Wesen hatte plötzlich an Tiefe gewonnen. Ihr war manchmal, als ob sie mit Jeffrey auch ihre Kinder verlöre, jene Kinder, die sie gerade jetzt brauchte und hätte haben sollen.
Sechs Monate nach Jeffreys Zusammenbruch, als der Alptraum verblasst und an seine Stelle nicht die alte Welt, sondern eine neue, grauere und kältere getreten war, besuchte Roxanne Harrys Frau. Da sie ohnehin gerade in Chicago war und noch eine Stunde Zeit hatte, bis ihr Zug ging, beschloss sie, ihr der Höflichkeit halber einen Besuch abzustatten.
Als sie die Wohnung betrat, fühlte sie sich sofort an einen Ort erinnert, den sie kannte – und gleich darauf fiel ihr eine um die Ecke gelegene Bäckerei ihrer Kindheit ein, eine Bäckerei mit Reihen über Reihen von pink glasierten Torten – ein muffiges Pink, Pink als Nahrungsmittel, triumphales Pink, vulgär und abscheulich.
Und so war auch diese Wohnung. Sie war pink. Ja sie roch pink!
Mrs. Cromwell öffnete ihr in einem pink-schwarzen Morgenrock die Tür. Ihre Haare waren blond, mit einem wöchentlichen Spritzer Peroxid im Ausspülwasser aufgehellt, vermutete Roxanne. Ihre Augen hatten einen wächsern-bläulichen Farbton – eine hübsche Frau, die allzu vornehm tat. Ihre Herzlichkeit war schrill und plump-vertraulich: Der Wechsel von Feindseligkeit zu Gastfreundlichkeit vollzog sich so schnell, dass beides nur im Gesicht und in der Stimme zu liegen schien, ohne je den tieferen Kern des Egoismus zu berühren oder von ihm berührt zu werden.
Doch für Roxanne war all dies zweitrangig; ihr Blick war voll ungläubiger Faszination an dem Morgenrock hängengeblieben. Er war abscheulich unsauber. Vom Saum zehn Zentimeter aufwärts war er ganz und gar von dem blauen Staub des Bodens verschmutzt; die nächsten sieben Zentimeter waren grau – dann kam allmählich seine ursprüngliche Farbe zum Vorschein: Pink. Auch an den Ärmeln und am Kragen war er schmutzig – und als die Frau sich umdrehte, um ihr voran ins Wohnzimmer zu gehen, hätte Roxanne geschworen, dass selbst ihr Hals schmutzig war.
Ein einseitiges Geplapper begann. Mrs. Cromwell äußerte sich detailliert zu ihren Vorlieben und Abneigungen, ihrem Kopf, ihrem Magen, ihren Zähnen, ihrer Wohnung – und mied mit geradezu unverschämter Akribie alles, was Roxanne mit dem Leben zu tun haben mochte, als nehme sie an, dass diese nach dem Schlag, den sie hatte einstecken müssen, das Leben peinlichst zu umgehen wünschte.
Roxanne lächelte. Dieser Kimono! Dieser Hals!
Nach fünf Minuten kam ein kleiner Junge ins Wohnzimmer
Weitere Kostenlose Bücher