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Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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getapst – ein schmutziger kleiner Junge, der einen schmutzigen, pinkfarbenen Strampler trug. Sein Gesicht war verschmiert – Roxanne hätte ihn gern auf den Schoß genommen und ihm die Nase geputzt; auch andere Stellen im Bereich seines Kopfes bedurften der Aufmerksamkeit, und seine kleinen Schuhe waren an den Zehen ausgetreten. Entsetzlich!
    »Was für ein süßer kleiner Junge!«, rief Roxanne mit strahlendem Lächeln aus. »Komm doch mal her zu mir.«
    Mrs. Cromwell sah ihren Sohn kalt an.
    »Wie schmutzig er sich immer macht. Schauen Sie sich nur sein Gesicht an!« Sie legten ihren Kopf schräg und betrachtete es kritisch.
    »Ist er nicht süß ?«, wiederholte Roxanne.
    »Schauen Sie sich doch seinen Strampler an«, sagte Mrs. Cromwell missbilligend.
    »Man müsste ihm mal was Sauberes anziehen, nicht wahr, George?«
    George sah sie komisch an. Das Wort Strampler bezeichnete für ihn ein von außen verschmutztes Kleidungsstück, genau wie dieses.
    »Ich habe heute Morgen versucht, ihn ordentlich anzuziehen«, klagte Mrs. Cromwell wie jemand, dessen Geduld schrecklich strapaziert worden ist, »und dabei festgestellt, dass er keinen Strampler mehr hat – und um ihn nicht nackt herumlaufen zu lassen, habe ich ihm lieber diesen wieder angezogen – und sein Gesicht –«
    »Wie viele hat er denn?« Roxannes Stimme klang freundlich interessiert, als hätte sie gefragt: »Wie viele Federfächer haben Sie?«
    »Oh –« Mrs. Cromwell legte ihre hübsche Stirn in Falten und dachte nach. »Fünf, glaube ich. Genügend, ich weiß.«
    »Man bekommt sie für fünfzig Cent das Stück.«
    In Mrs. Cromwells Augen zeigte sich Überraschung – und eine Spur von Überheblichkeit. Der Preis von Stramplern!
    »Wirklich? Das wusste ich gar nicht. Er sollte genügend Strampler haben, aber ich hatte die ganze Woche über keine Minute Zeit, die Wäsche wegbringen zu lassen.« Dann tat sie das Thema als unwichtig ab, indem sie sagte: »Ich muss Ihnen etwas zeigen –«
    Sie standen auf, und Roxanne folgte ihr, an der offenen Tür eines Badezimmers vorbei, dessen mit Kleidungsstücken übersäter Boden bewies, dass die Wäsche tatsächlich schon eine Weile nicht weggebracht worden war, in ein anderes Zimmer, das sozusagen die Quintessenz der Pinkheit darstellte. Dies war Mrs. Cromwells Zimmer.
    Hier öffnete die Hausherrin eine Schranktür und bot Roxannes Augen eine verblüffende Sammlung Damenunterwäsche dar. Es waren Dutzende hauchdünner Spitzen- und Seidenwunderwerke, allesamt sauber, glatt, dem Anschein nach unangetastet. Daneben hingen auf Bügeln drei neue Abendkleider.
    »Ich habe ein paar wunderschöne Sachen«, sagte Mrs. Cromwell, »aber nicht viel Gelegenheit, sie zu tragen. Harry geht nicht gern aus.« Groll schlich sich in ihre Stimme. »Er ist voll und ganz zufrieden, wenn ich den ganzen Tag lang Kinderschwester und Haushälterin spiele und am Abend die liebende Ehefrau.«
    Roxanne lächelte erneut.
    »Sie haben da ein paar wunderschöne Kleidungsstücke.«
    »Ja, das stimmt. Ich zeige Ihnen noch –«
    »Wunderschön«, unterbrach sie Roxanne, »aber wenn ich meinen Zug noch erreichen will, muss ich jetzt sofort aufbrechen.«
    Sie merkte, dass ihre Hände zitterten. Sie wollte damit diese Frau packen und sie schütteln – richtig schütteln. Sie wollte, dass man sie irgendwo einsperrte und Böden schrubben ließ.
    »Wunderschön«, wiederholte sie, »aber ich wollte nur kurz hereinschauen.«
    »Es tut mir leid, dass Harry nicht hier ist.«
    Sie gingen zur Tür.
    »– und, ach ja«, sagte Roxanne mühsam – doch ihre Stimme war immer noch sanft, und ihre Lippen lächelten –, »ich glaube, Sie bekommen diese Strampler bei Argile’s. Auf Wiedersehen.«
    Erst als sie am Bahnhof war und ihre Fahrkarte nach Marlowe gelöst hatte, merkte Roxanne, dass sie zum ersten Mal seit sechs Monaten für fünf Minuten nicht an Jeffrey gedacht hatte.
    IV
     
    Eine Woche später erschien Harry in Marlowe; er traf unerwartet um fünf Uhr am Nachmittag ein und sank, sobald er den Weg heraufgekommen war, erschöpft auf einen Verandastuhl. Roxanne hatte selbst einen anstrengenden Tag hinter sich und war todmüde. Um halb sechs wurden die Ärzte erwartet, die einen berühmten Nervenspezialisten aus New York mitbringen sollten. Sie war aufgeregt und zutiefst deprimiert, doch der Ausdruck in Harrys Augen bewog sie dazu, sich zu ihm zu setzen.
    »Was ist los?«
    »Nichts, Roxanne«, behauptete er. »Ich wollte nur sehen,

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