Winterträume
wie es Jeff geht. Kümmere dich nicht um mich.«
»Harry – du hast doch irgendetwas.«
»Nein, nichts«, wiederholte er. »Wie geht es Jeff?«
Ihr Gesicht verdunkelte sich vor Sorge.
»Ein bisschen schlechter, Harry. Doktor Jewett aus New York ist auf dem Weg hierher. Sie meinen, er könne mir etwas Genaues sagen. Er wird versuchen herauszufinden, ob diese Lähmung etwas mit dem ursprünglichen Blutgerinnsel zu tun hat.«
Harry stand auf.
»Ach, das tut mir leid«, sagte er unbeholfen. »Ich wusste nicht, dass du einen Arztbesuch erwartest. Dann wäre ich nicht gekommen. Ich wollte nur mal ein Stündchen auf eurer Veranda im Schaukelstuhl sitzen –«
»Setz dich«, befahl sie ihm.
Harry zögerte.
»Setz dich, Harry, lieber Junge.« Ihre Freundlichkeit floss jetzt in Strömen – hüllte ihn ein. »Ich sehe doch, dass du irgendetwas hast. Du bist weiß wie ein Bettlaken. Ich hole dir eine kühle Flasche Bier.«
Unvermittelt sackte er auf seinem Stuhl zusammen und barg das Gesicht in den Händen.
»Ich kann sie einfach nicht glücklich machen«, sagte er langsam. »Ich habe es wieder und wieder versucht. Heute Morgen hatten wir einen kleinen Streit über das Frühstück – ich frühstücke seit einiger Zeit immer in der Stadt –,und – na ja, kurz nachdem ich ins Büro gegangen bin, hat sie das Haus verlassen und ist mit George und einem Koffer voller Spitzenunterwäsche zu ihrer Mutter an die Ostküste gefahren.«
»Harry!«
»Und ich weiß nicht –«
Jetzt knirschte es auf dem Kies, und ein Wagen bog in die Einfahrt ein. Roxanne stieß einen kleinen Schrei aus.
»Das ist Doktor Jewett.«
»Oh, ich –«
»Du wartest doch, ja?«, unterbrach sie ihn zerstreut. Er sah, dass sein Problem an der aufgewühlten Oberfläche ihres Bewusstseins schon nicht mehr existierte.
Eine peinliche Minute lang machte man sich unkonzentriert und flüchtig miteinander bekannt. Dann folgte Harry den anderen ins Haus und sah ihnen nach, bis sie im oberen Stockwerk verschwunden waren. Er ging in die Bibliothek und setzte sich auf das große Sofa.
Eine Stunde lang beobachtete er, wie die Sonne langsam an den gemusterten Faltenwürfen der Chintzvorhänge hinaufwanderte. In der tiefen Stille wuchs sich das Summen einer Wespe, die an der Innenseite der Fensterscheibe gefangen war, zu regelrechtem Lärm aus. Von Zeit zu Zeit drang aus dem oberen Stockwerk ebenfalls ein Summen wie von mehreren größeren, hinter größeren Fensterscheiben gefangenen Wespen. Er hörte leise Schritte, das Aneinanderstoßen von Flaschen, laut rauschendes Wasser.
Was hatten er und Roxanne getan, dass das Leben ihnen solche schweren Schläge versetzte? Oben bei seinem Freund fand gerade eine Seelenbeschau bei lebendigem Leibe statt; und er selbst saß hier in diesem stillen Zimmer und lauschte der Klage einer Wespe, so wie er als Junge von einer strengen Tante dazu verdonnert worden war, stundenlang auf einem Stuhl zu sitzen und für irgendein schlechtes Betragen zu büßen. Doch wer hatte ihn hierhergesetzt? Welche zornige Tante hatte sich aus dem Himmel heruntergebeugt, um ihn büßen zu lassen für – ja, wofür?
Was Kitty anging, empfand er große Hoffnungslosigkeit. Sie war zu teuer – das war das unabänderliche Problem. Auf einmal hasste er sie. Er wollte sie zu Boden werfen und nach ihr treten – ihr sagen, dass sie eine Betrügerin und ein Blutsauger war – dass sie schmutzig war. Außerdem sollte sie ihm seinen Jungen geben.
Er stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Da hörte er, dass oben im ersten Stock jemand im Flur genau im Gleichschritt mit ihm auf und ab zu gehen begann. Unwillkürlich fragte er sich, ob sie so im Takt miteinander weitergehen würden, bis die andere Person das Ende des Flurs erreicht hatte.
Kitty war zu ihrer Mutter gefahren, um dort Trost zu suchen. Bei Gott, welcher Trost war von dieser Mutter zu erwarten! Er versuchte sich das Aufeinandertreffen vorzustellen: die geschmähte Ehefrau, die sich ihrer Mutter an die Brust warf. Es gelang ihm nicht. Dass Kitty imstande war, tiefe Trauer zu empfinden, konnte er einfach nicht glauben. Er betrachtete sie zunehmend als eine unnahbare und gefühllose Person. Gewiss würde sie sich von ihm scheiden lassen und irgendwann wieder heiraten. Er begann darüber nachzudenken. Wen würde sie heiraten? Er lachte bitter, verstummte dann. Ein Bild blitzte vor seinem geistigen Auge auf – Kitty, wie sie einen Mann umarmte, dessen Gesicht er nicht erkennen
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