Winterträume
konnte; Kittys Lippen auf den Lippen eines anderen, ganz offenkundig voller Leidenschaft.
»Gott!«, rief er laut. »Gott! Gott! Gott!«
Dann überschlugen sich die Bilder. Die Kitty vom Morgen verblasste; der schmutzige Kimono rollte sich auf und verschwand; Schmollmünder, Wutausbrüche und Tränen waren allesamt wie weggewischt. Sie war wieder Kitty Carr – Kitty Carr mit den blonden Haaren und den großen Kulleraugen. Ach, sie hatte ihn doch geliebt; sie hatte ihn geliebt.
Nach einer Weile nahm er wahr, dass etwas mit ihm nicht stimmte, etwas, das nichts mit Kitty oder Jeff zu tun hatte, sondern ganz anderer Art war. Dann plötzlich die überraschende Erkenntnis: Er hatte Hunger. So einfach war das! Er würde gleich in die Küche gehen und die farbige Köchin um ein Sandwich bitten. Danach musste er wieder in die Stadt zurück.
An der Wand hielt er inne, zerrte an etwas Rundem und steckte es sich, nachdem er es geistesabwesend betastet hatte, in den Mund wie ein Baby ein buntes Spielzeug. Dann biss er hinein – ah!
Sie hatte den verdammten Kimono dagelassen, diesen schmutzigen pinkfarbenen Kimono. Sie hätte wenigstens so viel Anstand besitzen können, ihn mitzunehmen, dachte er. Dieses Kleidungsstück würde im Haus hängen wie der Leichnam ihrer kranken Verbindung. Er würde versuchen, es wegzuwerfen, sich aber niemals dazu überwinden können. Wie Kitty würde es sein, weich und formbar, dabei undurchdringlich. Man konnte Kitty nicht bewegen; man konnte sie nicht erreichen. Da war nichts, was man hätte erreichen können. Das wusste er sehr gut – er hatte es schon immer gewusst.
Er griff nach einem weiteren Biskuit und riss es mit einiger Mühe mitsamt dem Nagel aus der Wand. Vorsichtig zog er den Nagel aus dem Biskuit und fragte sich träge, ob er den ersten mitgegessen hatte. Lächerlich! Daran würde er sich ja wohl erinnern – es war ein riesiger Nagel. Er spürte seinen Magen. Offenbar war er sehr hungrig. Er überlegte – erinnerte sich – richtig, gestern hatte er nicht zu Abend gegessen. Das Mädchen hatte seinen freien Tag gehabt, und Kitty hatte in ihrem Zimmer gelegen und Schokoladenplätzchen gegessen. Sie hatte gesagt, sie fühle sich »erdrückt« und könne seine Nähe nicht ertragen. Er hatte George gebadet, ihn zu Bett gebracht und sich dann auf die Couch gelegt, um sich einen Moment auszuruhen, bevor er selbst etwas zu Abend aß. Dort war er eingeschlafen und gegen elf wieder aufgewacht, um festzustellen, dass nichts im Eisschrank war außer einem Löffel Kartoffelsalat. Den hatte er gegessen, außerdem ein paar Schokoladenplätzchen, die er auf Kittys Kommode fand. Am Morgen hatte er eilig in der Stadt gefrühstückt, bevor er ins Büro gefahren war. Gegen Mittag jedoch hatte er begonnen, sich Kittys wegen Sorgen zu machen, und daher beschlossen, nach Hause zu fahren und sie zum Essen auszuführen. Das Nächste war dann die Nachricht auf seinem Kopfkissen gewesen. Der Stapel Unterwäsche in ihrem Schrank war weg – und sie hatte Anweisungen hinterlassen, die das Nachsenden ihres Schrankkoffers betrafen.
Er hatte noch nie solchen Hunger gehabt, dachte er.
Um fünf Uhr, als die Besuchskrankenschwester auf Zehenspitzen die Treppe herunterkam, saß er auf dem Sofa und starrte auf den Teppich.
»Mr. Cromwell?«
»Ja?«
»Mrs. Curtain kann heute nicht mit Ihnen zu Abend essen. Sie fühlt sich nicht wohl. Ich soll Ihnen sagen, dass die Köchin Ihnen etwas zubereiten wird und dass Sie im Gästezimmer schlafen können.«
»Ist sie denn krank?«
»Sie will sich oben in ihrem Zimmer hinlegen. Die Untersuchung ist gerade vorbei.«
»Haben sie – haben sie irgendetwas herausgefunden?«
»Ja«, sagte die Krankenschwester sanft. »Doktor Jewett meint, es gibt keine Hoffnung. Mr. Curtain kann noch ewig weiterleben, aber er wird nie mehr sehen oder sich bewegen oder denken können. Er wird nur noch atmen.«
»Nur noch atmen?«
»Ja.«
Erst jetzt fiel der Krankenschwester auf, dass neben dem Schreibtisch, wo ihrer Erinnerung nach ein Dutzend sonderbare runde Gegenstände in einer Reihe gehangen hatten, die sie für eine Art exotische Dekoration gehalten hatte, jetzt nur noch einer übrig war. Anstelle der anderen sah man nun eine Reihe kleiner Löcher in der Wand.
Harry folgte benommen ihrem Blick und stand dann auf.
»Ich denke, ich werde nicht bleiben. Ich glaube, es fährt bald ein Zug.«
Sie nickte. Harry nahm seinen Hut.
»Auf Wiedersehen«, sagte sie freundlich.
»Auf
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