Winterträume
blauen Augen verengten sich. Sie hoffte – sie wagte kaum zu hoffen, dass er mit ihr nach New York fahren würde.
»Mal sehen«, sagte er. »Wir haben November, nicht? Den wievielten?«
»Den dreiundzwanzigsten.«
»Gut, ich sage dir, was ich tun werde.« Er tippte zögernd die Fingerspitzen beider Hände gegeneinander. »Ich werde dir etwas schenken. Ich wollte dich schon den ganzen Herbst über auf eine Reise schicken, aber die Geschäfte liefen schlecht.« Fast hätte sie gelächelt – als ob die Geschäfte von irgendeiner Bedeutung für sein Leben wären. »Aber du musst auch mal eine Reise machen. Ich schenke sie dir.«
Er stand erneut auf, ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich daran.
»Ich habe seit geraumer Zeit ein bisschen Geld auf einer New Yorker Bank liegen«, sagte er, während er in einer Schublade nach einem Scheckheft kramte. »Und beabsichtige schon länger, das Konto aufzulösen. Lass – mal – sehen. Ich muss nur –« Sie hörten das Kratzen seines Stiftes. »Wo zum Teufel ist der Löscher? Ah!«
Er kam zum Feuer zurück, und ein pinkfarbenes, längliches Stück Papier flatterte ihr in den Schoß.
»Aber Vater!«
Es war ein Scheck über dreihundert Dollar.
»Kannst du dir das denn leisten?«, fragte sie.
»Ist schon in Ordnung«, sagte er und nickte. »Es kann ja gleichzeitig ein Weihnachtsgeschenk sein, und du wirst wohl auch noch ein Kleid oder einen Hut oder so etwas brauchen, bevor du losfährst.«
»Aber«, begann sie unsicher, »ich weiß gar nicht, ob ich das annehmen kann! Ich habe ja selber noch zweihundert auf meinem Konto. Meinst du wirklich –«
»O ja!« Er winkte mit einer großen, lässigen Geste ab. »Du brauchst mal Ferien. Du hast immer wieder von New York gesprochen, und ich möchte, dass du jetzt dorthin fährst. Ruf deine Freunde in Yale und an den anderen Colleges an, damit sie dich zur Prom oder dergleichen einladen. Das wäre doch schön. Du wirst dich gut amüsieren.«
Er ließ sich jäh auf seinem Stuhl nieder und stieß einen langen Seufzer aus. Yanci faltete den Scheck und steckte ihn tief in den Ausschnitt ihres Kleides.
»Ach«, sagte sie, jetzt wieder so leise und gedehnt, wie es sonst ihre Art war, »das ist wirklich wahnsinnig lieb von dir, aber ich möchte nicht so schrecklich verschwenderisch sein.«
Ihr Vater antwortete nicht. Er gab noch einen kleinen Seufzer von sich und lehnte sich schläfrig in seinem Stuhl zurück.
»Nach New York möchte ich natürlich schon sehr gerne«, fuhr Yanci fort.
Ihr Vater schwieg noch immer. Sie fragte sich, ob er eingeschlafen war.
»Schläfst du?«, fragte sie fröhlich. Sie beugte sich zu ihm hinunter; dann richtete sie sich wieder auf und schaute ihn an.
»Vater«, sagte sie zaghaft.
Ihr Vater regte sich nicht; die gesunde Farbe war plötzlich aus seinem Gesicht gewichen.
»Vater!«
Ihr dämmerte – und bei dem Gedanken wurde ihr kalt, und ein stählernes Korsett schnürte ihr die Brust zusammen –, dass sie allein im Zimmer war. Nach einem Augenblick der Panik sagte sie sich, dass ihr Vater tot war.
V
Yanci übte sich selbst gegenüber zwangsläufig Nachsicht – ganz ähnlich wie eine Mutter es ihrem wilden, verwöhnten Kind gegenüber tun mochte. Sie war weder ein rationaler Mensch, noch lebte sie nach einer eigenen, klar durchdachten Weltanschauung. Ihre spontane Reaktion auf eine solche Katastrophe wie den Tod ihres Vaters war daher hysterisches Selbstmitleid. Die ersten drei Tage waren ein einziger Alptraum; doch die mitfühlende Zivilisation, im Heilen der Wunden ihrer vom Glück begünstigten Kinder so unfehlbar wie die Natur, hatte eine gewisse Mrs. Oral, die Yanci schon immer verabscheut hatte, mit einem leidenschaftlichen Interesse für jedwede Krisen dieser Art ausgestattet. Im Grunde war es Mrs. Oral, die Tom Bowman beerdigte. Am Morgen nach seinem Tod hatte Yanci ihrer Tante mütterlicherseits in Chicago telegrafiert, doch die unaufdringliche, begüterte Dame hatte bislang nicht geantwortet.
Vier Tage lang saß Yanci von morgens bis abends in ihrem Zimmer im ersten Stock und hörte auf der Veranda Schritte kommen und gehen, und dass die Türklingel abgeschaltet worden war, verstärkte ihre Nervosität nur noch. Es war eine Anweisung von Mrs. Oral gewesen! Türklingeln würden immer abgeschaltet! Nach der Beerdigung ließ die Anspannung nach. In ihrem neuen schwarzen Kleid betrachtete Yanci sich im Wandspiegel und weinte, weil sie sich selbst so traurig und schön
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