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Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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die den stolzen Boulevard beim Standbild von Chelsea Arbuthnot enden ließ. Arbuthnot war der erste Gouverneur gewesen – und fast der letzte von angelsächsischem Blut.
    Yanci hatte auf dem ganzen Weg geschwiegen, noch in dem Verdruss gefangen, den der Abend ihr bereitet hatte, doch irgendwie fühlte sie sich von der frischen Luft des nördlichen Novembers, die an ihnen vorbeirauschte, auch getröstet. Sie würde am nächsten Tag ihren Pelzmantel herausholen müssen, dachte sie.
    »Wo sind wir jetzt?«
    Während sie langsamer wurden, blickte Scott zu der pompösen Steinfigur hinauf, die klar umrissen im kühlen Mondlicht stand, eine Hand auf einem Buch und den ausgestreckten Zeigefinger der anderen wie zum Zeichen des Vorwurfs direkt auf die in der Straße stattfindenden Bauarbeiten gerichtet.
    »Dies ist das Ende der Crest Avenue«, sagte Yanci und schaute ihn an. »Unseres Prachtboulevards.«
    »Ein Museum architektonischer Fehlschläge.«
    »Wie bitte?«
    »Nichts«, murmelte er.
    »Ich hätte Ihnen etwas dazu erzählen sollen. Das habe ich ganz vergessen. Wir könnten noch die Uferallee entlangfahren, wenn Sie möchten – oder sind Sie müde?«
    Nein, keineswegs, beteuerte Scott – er sei nicht im Geringsten müde.
    Auf der Allee wand sich die Zementstraße unter den dunkleren Bäumen dahin.
    »Der Mississippi – wie wenig er Ihnen heute bedeutet!«, sagte Scott auf einmal.
    »Wie bitte?« Yanci schaute sich um. »Ach so, der Fluss.«
    »Ich nehme an, dass er für Ihre Vorfahren einmal sehr wichtig war.«
    »Meine Vorfahren lebten damals gar nicht hier«, sagte Yanci würdevoll. »Meine Vorfahren stammen aus Maryland. Mein Vater ist erst nach seinem Studium in Yale hierhergezogen.«
    »Oh!« Scott zeigte sich höflich beeindruckt.
    »Meine Mutter stammte aus dieser Gegend. Mein Vater ist aus gesundheitlichen Gründen hergekommen – er lebte vorher in Baltimore.«
    »Oh!«
    »Aber inzwischen« – dies in leicht herablassendem Tonfall – »gehören wir natürlich genauso gut hierher wie an irgendeinen anderen Ort.«
    »Natürlich.«
    »Abgesehen davon, dass ich gerne an der Ostküste leben würde und Vater nicht dazu bewegen kann«, schloss sie.
    Es war jetzt nach ein Uhr morgens, und die Allee lag fast verlassen da. Dann und wann tauchten vor ihnen oberhalb einer Steigung zwei gelbe Scheiben auf, die sich als ein spät heimkehrendes Auto entpuppten. Ansonsten waren sie allein in einer gleichbleibenden, rauschenden Dunkelheit. Der Mond war untergegangen.
    »Wenn die Straße wieder näher am Fluss entlangläuft, könnten wir doch mal anhalten und ihn uns anschauen«, schlug er vor.
    Yanci lächelte innerlich. Das war offenkundig so eine Bemerkung, wie sie ein junger Mann aus ihrem Bekanntenkreis als einen ›internationalen Knutschwink‹ bezeichnete, einen Vorschlag also, der auf natürliche Weise eine Gelegenheit für einen Kuss herbeiführen sollte. Sie dachte nach. Bisher hatte der Mann noch keinen besonderen Eindruck auf sie gemacht. Er sah gut aus, war offensichtlich wohlhabend und kam aus New York. Auf dem Tanz hatte sie angefangen, ihn zu mögen, gegen Ende des Abends immer mehr; dann hatte der grässliche Zwischenfall bei der Ankunft ihres Vaters kaltes Wasser über diese beginnende Wärme gegossen. Und nun – es war November, die Nacht war kalt. Und dennoch –
    »Gut«, stimmte sie plötzlich zu.
    Die Straße gabelte sich; Yanci bog ab und brachte den Wagen hoch oberhalb des Flusses zum Stehen.
    »Gut so?«, fragte sie in die tiefe Stille hinein, die auf das Abschalten des Motors folgte.
    »Danke.«
    »Gefällt es Ihnen hier?«
    »Fast. Nicht ganz.«
    »Warum nicht?«
    »Das sage ich Ihnen gleich«, antwortete er. »Warum heißen Sie Yanci?«
    »Der Name kommt in der Familie häufig vor.«
    »Er ist sehr schön.« Zärtlich wiederholte er ihn ein paarmal. »Yanci – er hat den ganzen Charme von Nancy, ohne dabei geziert zu klingen.«
    »Wie heißen Sie?«, fragte sie.
    »Scott.«
    »Und weiter?«
    »Kimberly. Wussten Sie das nicht?«
    »Ich war mir nicht sicher. Mrs. Rogers hat so genuschelt, als sie uns vorstellte.«
    Eine kleine Pause trat ein.
    »Yanci«, wiederholte er, »die schöne Yanci mit den dunkelblauen Augen und der schläfrigen Seele. Wissen Sie, warum es mir hier noch nicht ganz gefällt, Yanci?«
    »Nein, warum?«
    Unmerklich hatte sie ihr Gesicht näher zu ihm hinbewegt und wartete mit leicht geöffneten Lippen auf eine Antwort, die ihre Frage, das wusste er jetzt, ihm gewährt

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