Winterträume
ziehen. Du solltest… du solltest« – er hielt inne, sein Gesicht lief puterrot an, als fehlten ihm die Worte –, »du solltest endlich kehrtmachen und noch mal von vorne anfangen. Du bist zu weit gegangen, das ist kein Scherz mehr. Das ist nicht mehr komisch. Du – du solltest endlich anfangen, dich anständig zu benehmen!«
Benjamin war den Tränen nahe; er sah seinen Sohn an.
»Und noch etwas«, fuhr Roscoe fort, »ich möchte, dass du, wenn wir Gäste haben, ›Onkel‹ zu mir sagst, nicht ›Roscoe‹, sondern ›Onkel‹, hast du mich verstanden? Es hört sich einfach albern an, wenn mich ein Fünfzehnjähriger bei meinem Vornamen ruft. Vielleicht solltest du überhaupt immer ›Onkel‹ zu mir sagen, damit du dich daran gewöhnst.«
Roscoe funkelte seinen Vater böse an und ließ ihn stehen…
X
Nach dieser Unterhaltung schlich sich Benjamin bedrückt die Treppe hinauf und sah sich unverwandt im Spiegel an. Er hatte sich seit drei Monaten nicht mehr rasiert, und doch fand er in seinem Gesicht nichts als einen dünnen weißen Flaum, der wahrlich nicht der Mühe wert war. Als er aus Harvard zurückkam, hatte Roscoe ihm den Vorschlag unterbreitet, er möge sich doch eine Brille aufsetzen und einen künstlichen Backenbart ankleben, und einen Moment lang war es ihm so vorgekommen, als ob die Farce seiner frühen Jahre von neuem aufgeführt werden sollte. Doch der Backenbart hatte gejuckt und war ihm peinlich gewesen. Er hatte geweint, und Roscoe hatte widerwillig klein beigegeben.
Benjamin schlug ein Buch mit Geschichten für Knaben auf, Die Pfadfinder von Bimini Bay, und fing an zu lesen. Doch er musste immer wieder an den Krieg denken. Im vorangegangenen Monat hatte sich Amerika auf die Seite der Alliierten gestellt, und Benjamin wollte zu den Fahnen eilen, doch leider war das Mindestalter sechzehn Jahre, und er sah nicht wie sechzehn aus. Wobei ihn sein wahres Alter, nämlich siebenundfünfzig, freilich ebenso untauglich für den Dienst gemacht hätte.
Da klopfte es an der Türe, und der Butler erschien mit einem Brief, in dessen einer Ecke ein großes Amtssiegel prangte und der adressiert war an Mr. Benjamin Button. Neugierig riss Benjamin den Umschlag auf und las entzückt, was dort geschrieben stand. Man teilte ihm mit, dass zahlreiche Reserveoffiziere aus dem Spanisch-Amerikanischen Krieg mit ihrer erneuten Einberufung in einen höheren Rang befördert worden seien und er nunmehr Brigadegeneral der Armee der Vereinigten Staaten sei und den Befehl habe, umgehend einzurücken.
Von fieberhafter Begeisterung gepackt, sprang Benjamin auf. Genau das hatte er sich gewünscht. Er griff nach seiner Mütze, und zehn Minuten später betrat er einen großen Schneidersalon in der Charles Street und verlangte mit seiner kieksenden Knabenstimme, dass man ihm eine Uniform anmessen solle.
»Na, Jungchen, willst wohl Soldat spielen, was?«, fragte der Angestellte leichthin.
Benjamin wurde rot. »Also hören Sie mal! Das geht Sie überhaupt nichts an, was ich will!«, entgegnete er ärgerlich. »Mein Name ist Button, ich wohne am Mt. Vernon Place, bloß, damit Sie Bescheid wissen, dass ich über die entsprechenden Mittel verfüge.«
»Schon gut«, lenkte der Angestellte zögernd ein, »und wenn nicht du, dann doch gewiss der Herr Papa, vermute ich.«
Benjamin wurde Maß genommen, und eine Woche später war seine Uniform fertig. Er hatte seine liebe Not, die ordentlichen Generalsabzeichen zu bekommen, denn der Händler wollte ihn unbedingt überreden, doch lieber eine hübsche Anstecknadel vom Christlichen Verein Junger Frauen zu nehmen, die würde genauso nett aussehen und wäre ja zum Spielen noch viel lustiger.
Ohne Roscoe Bescheid zu sagen, verließ Benjamin eines Nachts das Haus und fuhr mit der Eisenbahn nach Camp Mosby in South Carolina, wo er das Kommando über eine Brigade der Infanterie übernehmen sollte. An einem schwülen Apriltag hielt er vor dem Eingang des Camps, bezahlte das Taxi, das ihn vom Bahnhof hierhergebracht hatte, und sprach den diensthabenden Wachsoldaten an.
»Rufen Sie jemanden, der sich um mein Gepäck kümmert!«, sagte er forsch.
Der Wachhabende musterte ihn mit tadelndem Blick. »He da, Kleiner«, sagte er, »wo willst du denn hin mit deiner Generalsmontur?«
Mit feurigem Blick, aber leider auch mit seiner kieksenden Knabenstimme, wirbelte Benjamin, der Veteran des Spanisch-Amerikanischen Krieges, herum und sah den Mann an.
»Nehmen Sie gefälligst Haltung an!«,
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