Winterträume
und ein Stern funkelte, und die Lichter um den See herum glitzerten. Drüben auf einer dunklen Halbinsel wurden auf einem Klavier die Schlager des letzten Sommers und der Sommer davor intoniert – Schlager aus Chin-Chin und Der Graf von Luxemburg und Der Schokoladensoldat –, und weil Dexter Klaviermusik über dem Wasser schon immer wunderschön gefunden hatte, lag er vollkommen ruhig da und lauschte.
Die Melodie, die gerade erklang, war fünf Jahre zuvor, in Dexters zweitem Jahr auf dem College, neu und populär gewesen. Sie war damals auf einem Collegeball gespielt worden, als er sich den Luxus solcher Bälle nicht leisten konnte, und er hatte draußen vor der Aula gestanden und gelauscht. Der Klang der Melodie versetzte ihn in eine Art Taumel, und in diesem Taumel erlebte er, was jetzt geschah. Es war eine Stimmung tiefer Dankbarkeit, ein Gefühl, dass er sich ausnahmsweise einmal in schönstem Einklang mit der Welt befand und alles um ihn herum eine Helligkeit und einen Glanz verströmte, wie er es vielleicht nie wieder erleben würde.
Ein blasses Rechteck löste sich plötzlich aus der Dunkelheit der Insel und spuckte das widerhallende Knattern eines über den See rasenden Motorboots aus. Zwei weiße Banner geteilten Wassers entrollten sich hinter ihm, und kaum einen Moment später war das Boot bei Dexter und übertönte das heiße Klaviergeklimper mit dem Donner seiner Gischt. Als Dexter sich auf seine Ellbogen stützte, konnte er hinter dem Steuer eine Gestalt ausmachen, zwei dunkle Augen, die ihn über das schon wieder länger werdende Stück Wasser hinweg anschauten – dann war das Boot an ihm vorbei und sauste in einem großen, völlig beliebigen Gischtkreis auf dem See herum. Einer der Kreise verflachte schließlich genauso willkürlich, und das Boot kehrte zum Floß zurück.
»Wer ist da?«, rief sie, während sie den Motor ausschaltete. Sie war jetzt so dicht bei ihm, dass Dexter ihre Badebekleidung sehen konnte, die aus einem pinkfarbenen Einteiler zu bestehen schien.
Die Bootsschnauze stieß gegen das Floß, und als Letzteres sich abenteuerlich neigte, wurde er zu ihr hingeworfen. Mit unterschiedlich starkem Interesse erkannten sie einander wieder.
»Sind Sie nicht einer von den Männern, an denen wir heute Nachmittag vorbeigespielt haben?«, erkundigte sie sich.
O ja.
»Können Sie Motorboot fahren? Also, falls ja, dann tun Sie mir doch den Gefallen und fahren Sie dieses hier, damit ich mich auf dem Surfbrett hinterherziehen lassen kann. Ich heiße Judy Jones« – sie schenkte ihm ein albernes Grinsen, oder etwas, das wohl ein Grinsen sein sollte, denn sosehr sie ihren Mund auch verzog, es sah nicht fratzenhaft, sondern einfach wunderschön aus –, »und ich wohne in einem Haus drüben auf der Insel, und dort wartet ein Mann auf mich. Als er vorne vor der Tür hielt, bin ich hinten vom Steg weggefahren, weil er behauptet hat, ich sei sein Ideal.«
Ein Fisch sprang hoch, und ein Stern funkelte, und die Lichter um den See herum glitzerten. Dexter setzte sich neben Judy Jones, und sie erklärte ihm, wie man ihr Boot fuhr. Dann war sie im Wasser und schwamm mit geschmeidigen Kraulzügen zu ihrem Surfbrett. Das Auge folgte ihr mühelos, wie einem schaukelnden Ast oder dem Flug einer Möwe. Ihre butternussbraunen Arme glitten wendig durch die kleinen platingrauen Wellen – zuerst tauchte der Ellbogen auf, dann holte in einem weiten Bogen, eine wasserfallartige Kadenz erzeugend, der Unterarm aus, schnellte vor, stach hinein und bahnte sich einen Weg.
Sie fuhren mitten auf den See hinaus; Dexter drehte sich um und sah, dass sie auf dem tiefen hinteren Ende des Surfbretts kniete, das jetzt schräg aus dem Wasser ragte.
»Fahren Sie schneller«, rief sie, »so schnell, wie’s geht.«
Gehorsam drückte er den Gashebel nach vorn, und am Bug stieg die weiße Gischt hoch. Als er sich erneut umdrehte, stand das Mädchen aufrecht auf dem dahinrasenden Brett, die Arme weit ausgebreitet, die Augen zum Mond gerichtet.
»Es ist ganz schön kalt«, rief sie. »Wie heißen Sie?«
Er sagte es ihr.
»Wollen Sie nicht morgen zum Abendessen kommen?«
Sein Herz wirbelte herum wie das Schwungrad des Boots, und zum zweiten Mal gab ihre zufällige Laune seinem Leben eine neue Richtung.
III
Während Dexter am folgenden Abend darauf wartete, dass sie herunterkam, bevölkerte er den von weichem Sommerlicht erfüllten Raum und die Glasveranda davor mit den Männern, die Judy Jones schon geliebt hatten.
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