Winterträume
Verzückung, mit der er sich in ihr verlor, war eher ein Opiat als ein Tonikum. Für seine Arbeit in jenem Winter war es ein Glück, dass diese Momente selten waren. Am Anfang ihrer Bekanntschaft hatte es eine Weile den Anschein gehabt, als gebe es eine tiefe und spontane gegenseitige Anziehung – zu Beginn des Monats August, zum Beispiel: drei Tage mit ausgedehnten Abenden auf ihrer dämmerigen Veranda, ganzen Spätnachmittagen voll seltsamer, matter Küsse in schattigen Alkoven oder hinter den schützenden Spalieren der Gartenlauben, und Morgenstunden, in denen sie frisch wie ein Traum war und ihm in der Klarheit des erwachenden Tages beinahe schüchtern begegnete. Es lag die ganze köstliche Erregung eines Heiratsversprechens darin, umso mehr, als er begriff, dass es keines gab. Irgendwann während dieser drei Tage bat er sie auch zum ersten Mal, ihn zu heiraten. Sie sagte: »Eines Tages vielleicht«, sie sagte: »Küss mich«, sie sagte: »Ich möchte dich heiraten«, sie sagte: »Ich liebe dich«, sie sagte – nichts.
Die Gemeinsamkeit dieser drei Tage brach jäh ab, als ein Mann aus New York eintraf, der den halben September über bei ihr wohnte. Dexter litt Qualen, weil von Verlobung gemunkelt wurde. Der Mann war der Sohn des Direktors einer großen Treuhandgesellschaft. Doch gegen Ende des Monats hörte man, Judy langweile sich. Auf einem Tanzfest saß sie den ganzen Abend mit einem lokalen Verehrer im Motorboot, während der New Yorker panisch den ganzen Club nach ihr absuchte. Dem lokalen Verehrer erklärte sie, ihr Besucher öde sie an; zwei Tage später reiste er ab. Sie wurde mit ihm am Bahnhof gesehen, und es hieß, er habe ausgesprochen betrübt gewirkt.
Damit endete der Sommer. Dexter war vierundzwanzig und zunehmend in der Lage, zu tun, was ihm beliebte. Er trat zwei Clubs in der Stadt bei und wohnte in einem davon. Obwohl er keinesfalls zum harten Kern der Junggesellenriege dieser Clubs gehörte, gelang es ihm doch, bei Tanzfesten, wo Judy Jones mit einiger Wahrscheinlichkeit auftauchen würde, verfügbar zu sein. Er hätte so viele Rendezvous haben können, wie er wollte – er war jetzt ein ungebundener, von den Vätern der Stadt geschätzter junger Mann. Seine Verehrung für Judy Jones, zu der er sich offen bekannte, hatte seine Position noch gestärkt. Doch er hegte keinerlei gesellschaftliche Ambitionen und verachtete im Grunde jene tanzenden Männer, die für alle Donnerstags- oder Samstagspartys bereitstanden und sich bei Tischgesellschaften zwischen die jüngeren verheirateten Paare setzten. Schon spielte er mit dem Gedanken, an die Ostküste zu ziehen, nach New York. Und Judy Jones wollte er mitnehmen. Sosehr die Welt, aus der sie stammte, ihn auch desillusionieren mochte – von seiner Illusion, die sie ihm so überaus begehrenswert erscheinen ließ, konnte ihn nichts heilen.
Behalten wir diese Tatsache im Gedächtnis – denn nur in ihrem Licht lässt sich verstehen, was er für sie tat.
Achtzehn Monate nachdem er Judy Jones kennengelernt hatte, verlobte er sich mit einem anderen Mädchen. Ihr Name war Irene Scheerer, und ihr Vater gehörte zu jenen Männern, die stets an Dexter geglaubt hatten. Irene war hellhaarig, lieb und ehrenwert, auch ein bisschen mollig, und sie hatte zwei Verehrer, von denen sie sich freundlich verabschiedete, als Dexter sie offiziell bat, seine Frau zu werden.
Sommer, Herbst, Winter, Frühling, noch ein Sommer, noch ein Herbst – so viel von seinem tätigen Leben hatte er Judy Jones’ unfügsamen Lippen gewidmet. Sie hatte ihn mit Interesse, mit Ermutigung, mit Boshaftigkeit, mit Gleichgültigkeit, mit Verachtung traktiert, ihn den unzähligen kleinen Kränkungen und Demütigungen ausgesetzt, die in einem solchen Fall möglich sind – wie zur Rache dafür, dass sie überhaupt je etwas für ihn empfunden hatte. Sie hatte ihn herbeigewunken, ihn angegähnt, ihn erneut herbeigewunken, und oft hatte er mit Bitterkeit und Unmut darauf reagiert. Er verdankte ihr allerhöchstes Glück und unerträgliche Seelenpein. Sie hatte ihm unsägliche Unannehmlichkeiten und nicht wenig Ärger bereitet. Sie hatte ihn beleidigt und mit Füßen getreten, hatte sein Interesse an ihr gegen sein Interesse an seiner Arbeit ausgespielt – aus Spaß. Sie hatte ihm alles Mögliche angetan, außer Kritik an ihm zu üben – darauf hatte sie verzichtet, aber nur, so schien ihm, weil es die vollkommene Gleichgültigkeit befleckt hätte, die sie ihm gegenüber an den Tag legte und
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