Winterträume
SCHLAGRINGE UND GITARRE
Mo – Mi – Fr
15–17 Uhr
»Wenn Sie bitte hier entlang kommen würden…«, sagte der Direktor und drückte die Tür auf.
Amanthis fand sich in einem langen, hell erleuchteten Saal voller junger Mädchen und Männer ungefähr ihres Alters wieder. Was sie sah, kam ihr zunächst wie eine Art angeregter Nachmittagstee vor, doch nach einer Weile begann sie hier und da in all dem Treiben ein Motiv und ein Muster zu erkennen.
Die Schüler waren in Gruppen aufgeteilt, die entweder saßen, knieten oder standen, doch alle waren geradezu raubgierig auf das Thema konzentriert, mit dem sie sich beschäftigten. Aus einem Kreis von sechs jungen Damen, die sich um einige undefinierbare Gegenstände versammelt hatten, ertönte ein Medley aus Schreien und Rufen – klagend, bittend, bettelnd, flehend, mahnend, beschwörend und jammernd –, das die Oberstimme zu einem mysteriösen, klappernden Grundgeräusch bildete.
Daneben umringten vier junge Männer einen schwarzen Jugendlichen, der, wie sich zeigte, kein anderer als Mr. Powells einstiger Leibdiener war. Die jungen Männer brüllten Hugo anscheinend unzusammenhängende Sätze zu, die eine große Bandbreite an Gefühlen ausdrückten. Mal erhoben sich ihre Stimmen zu einer Art Geschrei, dann wieder sprachen sie leise und sanft, mit freundlichem Beiklang. Von Zeit zu Zeit antwortete Hugo ihnen mit beifälligen, korrigierenden oder missbilligenden Worten.
»Was tun sie da?«, flüsterte Amanthis Jim zu.
»Das ist ein Südstaatenakzent-Kurs. Viele junge Männer hier möchten den Südstaatenakzent erlernen – also unterrichten wir ihn – Georgia, Florida, Alabama, Ostküste, das alte Virginia. Einige wollen sogar reines Niggerenglisch lernen, für Gesangszwecke.«
Sie schlenderten zwischen den Gruppen umher. Ein paar Mädchen mit Schlagringen aus Metall pöbelten wüst auf zwei Boxsäcke ein, die mit dem anzüglich grinsenden, augenzwinkernden Gesicht eines »Weiberhelden« bemalt waren. Einige Männer und Frauen, vom monotonen Rhythmus eines Banjos angeführt, entlockten ihren Gitarren harmonische Silben; in einer Ecke tanzten Paare plattfüßig zu einer Schallplatte der Rastus Muldoons Savannah Band.
»Nun, Miss Powell, wenn Sie so weit sind, würde ich Sie bitten, Ihren Hut abzunehmen und sich da drüben in der Ecke zu Miss Genevieve Harlan am Boxsack zu gesellen.« Er erhob die Stimme. »Hugo«, rief er, »hier ist eine neue Schülerin. Statte sie mit einem Paar Powell’s Selbstverteidigungsschlagringen aus – Debütantinnengröße.«
III
Bedauerlicherweise habe ich Jim Powells berühmte Jazzschule weder je in Aktion gesehen, noch an den von ihm persönlich geführten Ausflügen in die Geheimnisse von Würfeln, Schlagringen und Gitarre teilgenommen. Ich kann daher nur die Einzelheiten weitergeben, welche mir einer seiner begeisterten Schüler später zugetragen hat. In all den Diskussionen, die im Nachhinein stattfanden, hat nie jemand geleugnet, dass die Schule ein gewaltiger Erfolg war, und kein Schüler hat es je bereut, ein Diplom von ihr entgegengenommen zu haben – den Bachelor of Jazz.
»Wenn ich’s unterm Deckel halten könnte«, vertraute Jim Amanthis an, »würde ich Rastus Muldoons Band aus Savannah herholen. Diese Band wollte ich schon immer mal leiten.«
Er machte Geld. Das Kursgeld war nicht übertrieben hoch – in der Regel waren seine Schüler nicht sonderlich gut bei Kasse –, doch er zog aus seiner Pension aus und nahm sich eine Suite im Casino Hotel, wo er sich von Hugo das Frühstück ans Bett bringen ließ.
Dafür zu sorgen, dass Amanthis zu einem Mitglied der jüngeren Gesellschaft Southamptons wurde, war einfacher, als er gedacht hatte. Innerhalb einer Woche kannten alle in der Schule sie beim Vornamen. Jim bekam sie weniger zu Gesicht, als ihm lieb war. Nicht dass sich ihr Verhalten ihm gegenüber änderte – sie ging oft mit ihm spazieren, sie war immer bereit, seinen Plänen zu lauschen –, doch nachdem die Schönen und Reichen sie in ihren Kreis aufgenommen hatten, schien sie an allen Abenden vergeben zu sein. Mehrmals war Jim bei ihr in der Pension aufgetaucht und hatte sie außer Atem angetroffen, als sei sie gerade erst hereingeeilt gekommen – vermutlich von irgendeiner Festivität, an der er keinen Teil hatte.
Und so merkte er, als der Sommer zur Neige ging, dass das i-Tüpfelchen auf dem Triumph seines Unternehmens fehlte. Trotz der Gastfreundschaft, die Amanthis erwiesen wurde, blieben
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