Winterträume
James J. Hill. In Hill vergötterte er das, was ihm, Miller, abging: das feine Gefühl, den richtigen Riecher, die Vorahnung des Regens in dem Wind, der die Wange streift. Millers Geist bewegte sich in den ausgetretenen Pfaden anderer Männer; nie im Leben hatte er eine Sache aus eigener Kraft in Schwung gebracht. Mit seinem verbrauchten, zappligen, zu klein geratenen Körper alterte er in dem gigantischen Schatten des großen Hill. Seit zwanzig Jahren trug er nur Gott und den Namen Hills im Herzen.
Am Sonntagmorgen erwachte Carl Miller in der glasklaren Sechsuhrstille. Er kniete sich vor das Bett, neigte sein gelblich-graues Haupt und die Enden seines dichten melierten Schnurrbarts auf das Kissen und betete mehrere Minuten lang. Dann zog er sein Nachthemd aus – einen Pyjama hatte er, wie alle aus seiner Generation, nie auf seinem Leib geduldet – und kleidete seinen hageren, weißen und unbehaarten Körper in wollene Unterwäsche.
Er rasierte sich. Stille in dem anderen Schlafzimmer, wo seine Frau in nervösem Schlummer lag. Stille auch in dem abgeschirmten Winkel der Diele, wo die Koje seines Sohnes stand; er schlief dort zwischen seinen Jugendbüchern, seiner Sammlung von Zigarrenbauchbinden, seinen mottenzerfressenen Wimpeln – »Cornell«, »Hamlin« und »Grüße aus Pueblo, New Mexico« – und seinen sonstigen privaten Besitztümern. Von draußen hörte Miller die schrillen Vogelstimmen, das Flügelschlagen des Federviehs und – als Unterton – das dunkel anschwellende Dum-ta-dum des durchfahrenden 6-Uhr-15-Zuges auf dem Weg nach Montana und weiter zur grünen Küste. Während das kalte Wasser von dem Waschlappen in seiner Hand tropfte, hob er plötzlich den Kopf – er hatte einen zaghaften Laut unten aus der Küche gehört.
Er trocknete hastig sein Rasiermesser ab, zog die herabhängenden Hosenträger über die Schultern und lauschte. In der Küche ging jemand, und zwar, wie er aus den leichten Schritten entnehmen konnte, nicht seine Frau. Mit aufstehendem Mund lief er schnell die Treppe hinab und öffnete die Küchentür.
Am Ausguss stand, die eine Hand an dem noch tropfenden Hahn und mit der anderen ein Glas Wasser umklammernd, sein Sohn. Die schönen Augen des Jungen mit den noch schlaftrunkenen Lidern begegneten voller Schrecken und Vorwurf dem Blick des Vaters. Der Junge war barfuß, sein Schlafanzug über Knie und Ellbogen emporgerollt.
Einen Augenblick verharrten beide reglos – Carl Millers Braue senkte sich, und die seines Sohnes stieg, als wollten sie ihre auseinanderstrebenden Empfindungen ins Gleichgewicht bringen. Dann zogen sich die Schnurrbartwülste des Vaters unheildrohend zusammen, bis sie den Mund tief beschatteten, und er blickte kurz umher, ob irgendeine Unordnung festzustellen sei.
Die Küche erglänzte im Sonnenlicht, das auf die blanken Tiegel fiel und die glatten Dielen des Fußbodens und die Tischplatte zum reinen Gelb des Weizens aufhellte. Hier war der Mittelpunkt des Hauses, die Feuerstelle, wo die Töpfe wie Spielzeug ineinanderpassten und der Wasserkessel den ganzen Tag gleichsam mit einem Pastellton leise pfiff. Alles war an seinem gewohnten Platz, nichts angerührt – bis auf den Wasserhahn, an dem sich immer noch Tropfen bildeten und mit einem hellen Klick in den Ausguss tropften.
»Was machst du hier?«
»Ich bekam auf einmal furchtbaren Durst, und da wollte ich…«
»Ich dachte, du gehst zur Kommunion.«
Der Blick des Sohnes schlug in heftiges Erstaunen um.
»Das hab ich ganz vergessen.«
»Hast du schon Wasser getrunken?«
»Nein…«
Im selben Moment wusste Rudolph, dass er einen schweren Fehler gemacht hatte, aber die blassen, entrüstet blickenden Augen, die ihn fixierten, hatten ihm die Wahrheit entlockt, ehe er noch einen Entschluss fassen konnte. Auch wurde ihm jetzt klar, dass er nicht hätte hinuntergehen sollen; aus einem vagen Drang, die Sache möglichst glaubhaft zu machen, hatte er ein benutztes Glas beim Spülstein zurücklassen wollen. Die Ehrbarkeit seiner Phantasie hatte ihm einen Streich gespielt.
»Gieß das Wasser aus«, befahl der Vater.
Rudolph tat es voll Verzweiflung.
»Was ist überhaupt mit dir los?«, fragte Miller ärgerlich.
»Nichts.«
»Warst du gestern zur Beichte?«
»Ja.«
»Wie konntest du dann jetzt Wasser trinken wollen?«
»Weiß nicht – ich hatte es vergessen.«
»Ein bisschen Durst ist dir wohl wichtiger als deine Religion!«
»Ich hab es einfach vergessen.« Rudolph fühlte, wie ihm Tränen in
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