Winterträume
dessen Gänge unweigerlich wieder in die grelle Sonne mündeten.
Als er eines Nachmittags an diesem Punkt angelangt war und sein Geist nur noch wie ein altes Uhrwerk abschnurrte, führte seine Haushälterin einen hübschen, ernsten Jungen von elf Jahren zu ihm herein, der Rudolph Miller hieß. Der Junge setzte sich auf einen Stuhl mitten in einem Sonnenfleck, und der Geistliche an seinem Nussbaumschreibtisch tat, als sei er sehr beschäftigt. Er wollte sich nicht anmerken lassen, wie sehr ihn der Besucher von dem Alpdruck seines Zimmers entlastete.
Nun wandte er sich um und starrte plötzlich in zwei große, flackernde Augen, die kobaltblau aufleuchteten. Zunächst war er über ihren Ausdruck erschrocken; dann erst bemerkte er, dass sein Besucher sich in einem Zustand elendster Angst befand.
»Deine Lippen zittern ja«, sagte Pater Schwartz bestürzt.
Der Junge bedeckte seinen zitternden Mund mit der Hand.
»Bist du in Nöten?«, fragte Pater Schwartz streng. »Nimm die Hand vom Mund und sag mir, was mit dir los ist.«
Der Junge – Pater Schwartz erkannte in ihm jetzt den Sohn des Spediteurs Miller, eines Pfarrmitglieds – zog widerstrebend die Hand von seinem Mund und ließ sich in ersterbendem Flüsterton vernehmen:
»Vater Schwartz – ich habe eine entsetzliche Sünde begangen.«
»Eine Sünde gegen die Keuschheit?«
»Nein Vater… schlimmer.«
Pater Schwartz fuhr jäh auf.
»Hast du jemand ermordet?«
»Nein – aber ich glaube…« Die Stimme hob sich zu einem Winseln.
»Möchtest du zur Beichte gehen?«
Der Junge schüttelte unglücklich den Kopf. Pater Schwartz räusperte sich, um seine Stimme für einen beruhigenden, freundlichen Zuspruch herabzumildern. Jetzt war der Augenblick, seine eigene Qual zu vergessen; er musste versuchen, als Stellvertreter Gottes zu handeln. Er sprach im Stillen eine fromme Anrufung und hoffte, Gott werde ihm helfen, das Richtige zu tun.
»Nun sag mal, was du getan hast«, mahnte er in dem neuen milden Tonfall.
Der Junge blickte ihn durch seine Tränen hindurch an und fühlte sich durch den Eindruck moralischer Wendigkeit, den der verstörte Priester vermittelte, ermutigt. Indem er so viel von sich preisgab, wie ihm möglich war, begann Rudolph Miller seine Geschichte zu erzählen.
»Am Sonnabend, vor drei Tagen, war’s – da sagte mein Vater, ich müsste zur Beichte, denn ich war einen Monat nicht gewesen, meine Familie nämlich, die gehen jede Woche, und ich war nicht mit. Und meinetwegen, es machte mir nichts aus. Ich wollte bis nach dem Abendessen warten, denn ich trieb mich gerade mit Kameraden rum, und Vater fragte mich, ob ich gegangen sei, und ich sagte ›nein‹, und da nahm er mich beim Kragen und sagte ›Jetzt gehst du aber‹, da sagte ich ›in Ordnung‹, und so ging ich rüber zur Kirche. Und er schrie hinter mir her: ›Untersteh dich, wiederzukommen, bevor du nicht da warst‹…«
II
»Am Sonnabend, vor drei Tagen…«
Der Samtvorhang des Beichtstuhls fiel wieder in seine trostlosen Falten zurück und ließ nur die abgewetzte Schuhsohle eines alten Mannes sehen. Hinter dem Vorhang war eine unsterbliche Seele allein mit Gott und dem Reverend Adolphus Schwartz, dem Priester der Pfarrei. Eine Stimme hob an, ein mühsames Flüstern mit verhaltenen Zischlauten, das von Zeit zu Zeit durch die vernehmbar fragende Stimme des Priesters unterbrochen wurde.
Rudolph Miller wartete auf Knien in der Bank neben dem Beichtstuhl und bemühte sich mit angespannten Nerven, zu hören und auch wieder nicht zu hören, was drinnen gesprochen wurde. Dass man den Priester hier draußen verstehen konnte, beunruhigte ihn. Als Nächster war er an der Reihe, und die drei oder vier anderen, die noch warteten, konnten in aller Ruhe zuhören, wie er seine Verstöße gegen das Sechste und Neunte Gebot eingestand.
Rudolph hatte weder je Ehebruch begangen noch seines Nächsten Weib begehrt – aber die Beichte der benachbarten Sünden fiel ihm besonders schwer. Im Vergleich damit tat er die weniger schändlichen Anfechtungen leicht ab – sie bildeten nur eine graue Folie, die das schwarze Mal der sexuellen Verfehlungen auf seiner Seele nicht so deutlich hervortreten ließ.
Er hatte seine Ohren mit den Händen bedeckt, in der Hoffnung, dass die anderen das bemerken und ihm mit gleichem Takt lohnen würden, als eine heftige Bewegung des Sünders im Beichtstuhl ihn das Gesicht fest auf den Arm pressen ließ. Seine Angst nahm körperliche Form an und trieb ihm einen
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