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Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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die Augen kamen.
    »Das ist keine Antwort.«
    »Es war aber so.«
    »Du solltest dich mehr zusammennehmen!« Der Vater blieb bei seinem hochgeschraubten inquisitorischen Ton. »Wenn du so vergesslich bist, dass du nicht mal an deine Religion denkst, müssen andere Maßnahmen ergriffen werden.«
    In die gespannte Pause hinein sagte Rudolph: »Ich denke schon daran.«
    »Erst vernachlässigst du deine Religion«, rief der Vater und steigerte sich in Wut, »dann fängst du vielleicht mit Lügen und Stehlen an, und das Nächste ist dann die Erziehungsanstalt!«
    Nicht einmal diese bekannte Drohung konnte den Abgrund vertiefen, den Rudolph vor sich sah. Entweder musste er jetzt alles gestehen und die unvermeidliche heftige Tracht Prügel in Kauf nehmen oder den Blitz des göttlichen Zornes herausfordern, indem er Leib und Blut Christi mit einem Sakrileg auf der Seele empfing. Ersteres schien ihm von beidem das schlimmere Übel – er fürchtete nicht so sehr die Prügel als vielmehr die grausame Wildheit, die dabei aus dem schwächlichen Mann hervorbrach.
    »Stell das Glas hin und geh nach oben dich anziehen!«, befahl sein Vater. »Und wenn wir in der Kirche sind, tust du gut daran, vor der Kommunion niederzuknien und Gott für deine Leichtfertigkeit um Vergebung zu bitten.«
    Irgendeine zufällige Nuance in diesem Befehl wirkte auf Rudolphs verwirrtes und erschrecktes Gemüt wie ein Katalysator. Ein wilder, stolzer Zorn packte ihn, und er schmetterte das Glas heftig in den Ausguss.
    Sein Vater stieß einen gequälten heiseren Laut aus und sprang auf ihn los. Rudolph duckte sich zur Seite, warf einen Stuhl um und versuchte sich hinter den Küchentisch zu retten. Er schrie auf, als eine Hand seine Schulter ergriff, und dann fühlte er den dumpfen Anprall einer Faust gegen seine Schläfe und einen Hagel von Schlägen auf seinem Oberkörper. Während er im festen Griff des Vaters hierhin und dorthin taumelte, von dem Arm, an den er sich klammerte, geschleift und wieder hochgezogen wurde und der Schmerz ihn peinigte, gab er keinen Laut von sich – nur dass er mehrmals hysterisch auflachte. Nach kaum einer Minute hörten die Schläge plötzlich auf. Eine Ruhepause trat ein, aber der väterliche Griff lockerte sich nicht; beide zitterten heftig und stießen seltsam verstümmelte Worte hervor. Dann beförderte Carl Miller seinen Sohn halb mit Stößen, halb mit Drohungen nach oben.
    »Los, zieh dich an!«
    Rudolph war fast von Sinnen und fror entsetzlich. Der Kopf schmerzte ihn; auf seinem Nacken hatte er einen langen, flachen Kratzer von den Fingernägeln des Vaters. Beim Ankleiden schluchzte und zitterte er. Er bemerkte seine Mutter, die in einem Morgenrock auf der Türschwelle stand. Ihr runzliges Gesicht zog sich noch mehr zusammen, weitete sich dann, um sich alsbald in ein neues Gewirr von Fältchen zu legen, die sich vom Hals bis zur Stirn hinaufzogen. Er verabscheute ihre schwächlichen Bemühungen, entzog sich ihr grob, als sie seinen Hals mit Zaubernussblättern bestreichen wollte, und wusch und kämmte sich mit hastigen, zuckenden Bewegungen. Dann folgte er seinem Vater zum Hause hinaus und weiter die Straße entlang zur katholischen Kirche.
    IV
     
    Auf dem Weg sprachen sie kein Wort, außer wenn Carl Miller, automatisch grüßend, von den Vorübergehenden Notiz nahm. Nur Rudolphs unregelmäßige Atemzüge störten die heiße Sonntagsstille.
    Am Kirchenportal machte sein Vater entschlossen halt.
    »Ich denke, es ist besser, du beichtest noch einmal. Sage Pater Schwartz, was du getan hast, und bitte Gott um Verzeihung.«
    »Du hast aber auch die Beherrschung verloren!«, sagte Rudolph schnell.
    Carl Miller tat einen Schritt auf seinen Sohn zu, der ängstlich zurückwich.
    »Gut, ich gehe ja schon.«
    »Wirst du tun, was ich sage?«, rief sein Vater mit unterdrückter, heiserer Stimme.
    »Ja.«
    Rudolph schritt in die Kirche, betrat zum zweiten Mal seit dem Vortag den Beichtstuhl und kniete nieder. Das Fensterchen öffnete sich sogleich.
    »Ich bekenne mich schuldig, mein Morgengebet unterlassen zu haben.«
    »Ist das alles?«
    »Ja, alles.«
    Eine wehmütige Genugtuung überkam ihn. So leicht würde er nie wieder die Bedürfnisse seines freien Selbstgefühls auf eine abstrakte Formel bringen können. Eine unsichtbare Grenze war überschritten; er war sich seiner Isolierung bewusst geworden – und das galt nun nicht mehr nur für die Augenblicke, in denen er Blatchford Sarnemington war, sondern für sein gesamtes

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