Winterträume
abenteuerliche Erregung ihn beim Anhören dieser Dinge ergriffen hatte. Sind es nicht gerade die gefallenen Mädchen in den Frauengefängnissen, die unverbesserlichen mit dem harten, ausdruckslosen Blick, für die das hellste Feuer gebrannt hat?
»Hast du mir sonst noch etwas zu sagen?«
»Ich glaube nicht, Vater.«
Rudolph fühlte sich sehr erleichtert. Seine fest gefalteten Hände waren feucht von Schweiß.
»Hast du vielleicht einmal gelogen?«
Die Frage erschreckte ihn. Wie alle gewohnheitsmäßigen und instinktiven Lügner hatte er einen gewaltigen, ehrfürchtigen Respekt vor der Wahrheit. Fast ohne sein Zutun kam ihm rasch eine beleidigte Antwort über die Lippen. »O nein, Vater, ich lüge nie.«
Einen Augenblick genoss er den Triumph, wie ein Untertan, der sich auf den Thron des Königs gesetzt hat. Als dann aber der Priester die üblichen Ermahnungen zu murmeln begann, kam ihm zum Bewusstsein, dass er gerade durch sein heroisches Ableugnen der Lüge eine fürchterliche Sünde begangen hatte – er hatte im Beichtstuhl gelogen.
Pater Schwartz’ Mahnung »Geh in dich, mein Sohn« beantwortete er mechanisch durch ein laut und ausdruckslos wiederholtes: »Oh, mein Gott, ich bin von Herzen betrübt, Dich beleidigt zu haben…«
Das musste er jetzt sofort bereinigen – es war eine böse Verfehlung; doch kaum hatte er das letzte Wort des Gebets ausgesprochen, gab es einen harten Laut, und das Fensterchen war geschlossen.
Eine Minute später trat er in die Dämmerung hinaus und spürte, wie unter dem offenen Himmel und in der Weite der Weizenfelder die Muffigkeit der Kirche von ihm wich. Die Erleichterung darüber drängte das Bewusstsein dessen, was er getan hatte, noch einmal zurück. Statt sich zu grämen, tat er einen tiefen Atemzug in der frischen Luft und sprach immer wieder die Worte »Blatchford Sarnemington, Blatchford Sarnemington« vor sich hin.
Blatchford Sarnemington – das war er selbst, und diese Worte waren für ihn ein Gedicht. Indem er Blatchford Sarnemington wurde, ging eine gewinnende Vornehmheit von ihm aus. Blatchford Sarnemingtons Leben war voller überwältigender Triumphe. Wenn Rudolph nur ein wenig die Augen schloss, so bedeutete das, dass Blatchford von ihm Besitz ergriffen hatte, und im Weitergehen vernahm er um sich ein Säuseln neidvoller Bewunderung: »Blatchford Sarnemington! Da geht Blatchford Sarnemington.«
Solange er auf dem holprigen Pfad heimwärts stolzierte, war er ganz Blatchford; doch als der Weg sich zur asphaltierten Hauptstraße verbreiterte, war es mit seiner heiteren Unbeschwertheit vorbei, sein Gemüt kühlte sich ab, und er wurde sich mit Schrecken seiner Lüge bewusst. Natürlich, Gott würde bereits davon wissen – aber Rudolph hatte in seinem Kopf ein kleines Reservat, wo er vor Gott sicher war und wo er sich die Ausflüchte zurechtlegte, mit denen er Gott oft ein Schnippchen schlug. In diesen Winkel zog er sich auch jetzt zurück und überlegte, wie er am besten die Folgen seiner falschen Aussage abwenden konnte.
Die Kommunion musste er um jeden Preis vermeiden. Das Risiko, Gott über die Maßen zu erzürnen, war zu groß. Er würde am nächsten Morgen »aus Versehen« ein Glas Wasser trinken und sich so, gemäß den Bestimmungen der Kirche, für den Empfang der Kommunion untauglich machen. Trotz seiner Fadenscheinigkeit war dieser Vorwand der praktischste, der ihm einfiel. Die damit verbundenen Gefahren nahm er auf sich, und während er bei Rombergs Drugstore um die Ecke bog und das väterliche Haus in Sichtweite kam, war er mit dem Gedanken beschäftigt, wie die Sache am besten in die Tat umzusetzen sei.
III
Rudolphs Vater, der Spediteur am Ort, war mit der zweiten Welle deutschen und irischen Blutes in das Gebiet von Minnesota und Dakota geschwemmt worden. Damals hatte ein energischer junger Mann in dieser Gegend an sich große Chancen, aber Carl Miller war es nicht gelungen, sich bei seinen Vorgesetzten oder seinen Untergebenen jenes Ansehen unwandelbarer Zuverlässigkeit zu geben, das für den Erfolg in einem hierarchischen Gewerbszweig entscheidend ist. Von Natur aus etwas grob veranlagt, war er doch in der Sache nicht hart genug und unfähig, die elementaren Dinge im kaufmännischen Leben als gegeben hinzunehmen, und das machte ihn argwöhnisch, nervös und dauerhaft missmutig.
Zweierlei verband ihn mit dem großen Strom des Lebens: sein Glaube an die römisch-katholische Kirche und seine mystische Verehrung für den Eisenbahnbaron
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