Winterträume
weitergewandert. Rudolph war jetzt nicht mehr so verstört; nachdem er erst einmal sein Herz erleichtert hatte, hatte sich etwas verändert. Solange er mit diesem Priester im Zimmer war – das wusste er –, würde Gott seinen Herzschlag nicht anhalten. Er seufzte und wartete still, was der Priester sagen würde.
Pater Schwartz starrte mit seinen kalten wässrigen Augen auf das Teppichmuster, dessen Mäander, flache blattlose Ranken und schwache Andeutungen von Blumen, in der Sonne aufleuchteten. Die Standuhr tickte beharrlich dem Sonnenuntergang entgegen; drinnen in dem hässlichen Zimmer und draußen vor dem Fenster breitete sich eine strenge Monotonie aus, die nur hin und wieder von dem Nachhall ferner Hammerschläge in der Luft unterbrochen wurde. Die Nerven des Priesters waren zum Zerreißen gespannt; die Perlenschnur des Rosenkranzes kroch und wand sich schlangengleich auf dem grünen Tuch der Tischplatte. Die Worte, die er jetzt hätte sagen müssen, wollten ihm nicht einfallen.
Von allem, was es in diesem weltverlorenen Schwedenstädtchen gab, waren ihm nur die Augen dieses Jungen gegenwärtig – diese wundervollen Augen mit den Wimpern, die sich nur widerstrebend auftaten und sich gleichsam sehnsüchtig wieder zurückbogen.
Das Schweigen währte noch länger, und Rudolph wartete; der Priester versuchte sich angestrengt an etwas zu erinnern, das ihm immer weiter entglitt, und die Uhr tickte unentwegt in dem morschen Haus. Dann blickte Pater Schwartz den Jungen fest an und sagte mit merkwürdig veränderter Stimme:
»Wenn viele Leute sich festlich versammeln, bekommen die Dinge einen schimmernden Glanz.«
Rudolph erschrak und tat einen raschen Blick in Pater Schwartz’ Gesicht.
»Ich sagte…«, begann der Priester wieder und zögerte, lauschend. »Hörst du die Hammerschläge und die tickende Uhr und die Bienen? Das taugt alles nichts. Die wahre Sache ist: viele Menschen im Mittelpunkt der Welt, wo immer dieser ist. Dann…«, seine wässrigen Augen weiteten sich zu einem wissenden Blick, »dann bekommen die Dinge den schimmernden Glanz.«
»Ja, Vater«, pflichtete Rudolph ein wenig ängstlich bei.
»Was willst du werden, wenn du erwachsen bist?«
»Eine Zeitlang wollte ich Baseballspieler werden«, antwortete Rudolph nervös, »aber ich glaube, das ist kein so gutes Ziel, so möchte ich denn wohl Schauspieler oder Seeoffizier werden.«
Wieder sah ihn der Priester starr an.
»Ich sehe genau, was du meinst«, sagte er mit grimmigem Ausdruck.
Rudolph hatte nichts Bestimmtes gemeint, und bei dieser Festlegung wurde ihm noch unbehaglicher.
›Der Mann ist verrückt‹, dachte er, ›und ich habe Angst vor ihm. Er will, dass ich ihm irgendwie weiterhelfen, aber ich will nicht.‹
»Du siehst aus, als wenn die Dinge jenen Glanz bekämen«, rief Pater Schwartz unbeherrscht aus. »Warst du jemals auf einem Fest?«
»Ja, Vater.«
»Und hast du bemerkt, dass alle sich feingemacht hatten? Das ist’s, was ich meine. Gerade als du auf das Fest kamst, gab es einen Augenblick, da sahen alle Leute extrafein aus. Vielleicht standen gerade zwei kleine Mädchen an der Tür, und ein paar Jungen beugten sich über das Treppengeländer, und überall ringsum standen Vasen voll frischer Blumen.«
»Ich bin auf vielen Festen gewesen«, sagte Rudolph und fühlte sich durch diese Wendung, die das Gespräch genommen hatte, erleichtert.
»Natürlich«, fuhr Pater Schwartz triumphierend fort, »ich wusste doch, dass du mir beistimmen würdest, aber meine Theorie ist, dass immer, wenn viele Menschen festlich versammelt sind, die Dinge die ganze Zeit schimmern und strahlen.«
Rudolph ertappte sich bei dem Gedanken an Blatchford Sarnemington.
»Hör gefälligst zu!«, befahl der Priester ungeduldig. »Mach dir keine Gedanken mehr über letzten Sonnabend. Apostasie zieht nur die absolute Verdammnis nach sich, wenn zuvor ein vollkommen aufrichtiger Glaube bestand. Ist das klar?«
Rudolph hatte keine blasse Ahnung, wovon Pater Schwartz sprach, aber er nickte, und der Priester nickte zurück und griff dann seine seltsamen Ideen wieder auf.
»Ja«, rief er aus, »es gibt jetzt schon Lichter so groß wie Sterne – kannst du dir das vorstellen? Ich habe von einem Licht gehört in Paris oder irgendwo anders, das war so riesig wie ein Stern. Und viele Menschen hatten es – lauter heitere, glückliche Menschen. Sie haben jetzt alles Mögliche, das man sich nie hätte träumen lassen.«
»Sieh mal her…« Er näherte sich
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