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Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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sie sah ihn erstaunt an, als hätte sie ihn nie zuvor zu sehen bekommen.
    »Rags«, sagte er, »Rags –«
    »John M. Chestnut?«, fragte sie und betrachtete ihn mit großer Aufmerksamkeit.
    »Aber ja!«, rief er ungehalten. »Willst du etwa behaupten, du würdest mich nicht wiedererkennen? Oder du hättest mir nicht geschrieben, dass ich herkommen soll?«
    Sie lachte. Ein Chauffeur erschien in Rufweite, und sie wand sich aus ihrem Mantel und enthüllte ein Kleid aus großen verwischten meerblauen und grauen Karos. Sie schüttelte sich wie ein nass gewordener Vogel.
    »Ich habe eine Menge Krempel zu deklarieren«, bemerkte sie wie nebenbei.
    »Ich auch«, sagte Chestnut hastig, »und als Erstes muss ich erklären, dass ich dich jede Minute deiner Abwesenheit geliebt habe, Rags.«
    Sie unterbrach ihn mit einem Stöhnen.
    »Bitte! Auf dem Schiff waren junge Amerikaner. Von diesem Thema habe ich genug.«
    »Du lieber Himmel!«, rief Chestnut. »Willst du damit etwa sagen, dass du meine Liebe so einstufst wie die Flirtversuche auf einem Schiff?«
    Er war lauter geworden, und verschiedene Zuhörer spitzten sichtlich die Ohren.
    »Psst!«, sagte sie warnend. »Ich gebe hier keine Zirkusvorstellung. Wenn du vorgelassen werden willst, solange ich hier bin, musst du dich zusammennehmen.«
    Doch Mr. John Chestnut hatte offenbar die Kontrolle über seine Stimme verloren.
    »Willst du damit etwa sagen« – die Stimme zitterte und gellte dabei dennoch durchdringend –, »du hättest vergessen, was du mir an dieser Stelle vergangenen Donnerstag vor fünf Jahren gesagt hast?«
    Die Hälfte der Schiffspassagiere verfolgte inzwischen die Szene auf dem Kai, und ein weiterer kleiner Strudel wirbelte aus dem Zollgebäude, um zuzusehen.
    »John« – ihre Verärgerung wuchs –, »wenn du noch einmal die Stimme erhebst, werde ich dafür sorgen, dass du Gelegenheit bekommst, dich abzukühlen. Ich fahre zum Ritz. Du kannst mich dort heute Nachmittag besuchen.«
    »Aber Rags!«, wandte er heiser ein. »Hör mir zu. Vor fünf Jahren –«
    Dann bot sich den Zuschauern am Kai ein merkwürdiges Schauspiel. Eine wunderschöne Dame in einem meerblau und grau karierten Kleid tat einen schnellen Schritt vorwärts, bis ihre Hände einen aufgeregten jungen Mann vor ihr berührten. Der junge Mann trat instinktiv zurück, fand mit dem Fuß keinen Halt, fiel anmutig rückwärts von dem zehn Meter hohen Kai und plumpste nach einer durchaus eleganten Umdrehung in den Hudson.
    Ein Hilferuf ertönte, Leute eilten zum Rand des Kais, doch im selben Augenblick tauchte der Kopf des jungen Mannes aus dem Wasser auf. Er schwamm mit mühelosen Stößen, und als die junge Dame, die augenscheinlich den Zwischenfall ausgelöst hatte, dies sah, beugte sie sich über den Pier hinaus und formte ihre Hände zu einem Sprachrohr.
    »Ich bin gegen halb fünf zu sprechen«, rief sie.
    Und mit einem fröhlichen Winken, das zu erwidern der abgestürzte Gentleman außerstande war, rückte sie ihr Monokel zurecht, warf einen hochmütigen Blick auf die neugierige Menge und verließ den Schauplatz unbekümmerten Schritts.
    II
     
    Die fünf Hunde, drei Kammerzofen und das französische Waisenmädchen wurden in der größten Suite des Ritz einquartiert, und Rags ließ sich träge in ein dampfendes, kräuterduftendes Bad gleiten, in dem sie fast eine Stunde lang döste. Danach erhielt sie geschäftlichen Besuch von einer Masseuse, einer Maniküre und zuletzt einer Pariser Coiffeuse, die ihren Haarschnitt wieder zu Häftlingsformat trimmte. Als John M. Chestnut um vier Uhr eintraf, begegnete er einem halben Dutzend Anwälten und Bankiers, den Verwaltern des Martin-Jones-Treuhandvermögens, die im Vorraum warteten. Sie warteten seit halb zwei und befanden sich allmählich in einem Zustand beträchtlicher Verärgerung.
    Nachdem eine der Zofen ihn einer gründlichen Inspektion unterzogen hatte – möglicherweise um sich zu vergewissern, dass er wirklich trocken war –, wurde John umgehend zu M’selle geführt. M’selle ruhte in ihrem Schlafzimmer auf der Chaiselongue, inmitten von zwei Dutzend Seidenkissen, die sie über den Atlantik begleitet hatten. John betrat den Raum etwas steif und verbeugte sich förmlich.
    »Jetzt siehst du besser aus«, sagte sie, erhob sich aus ihren Kissen und begutachtete ihn beifällig. »Du hast Farbe bekommen.«
    Er dankte ihr kühl für das Kompliment.
    »Du solltest jeden Morgen reinspringen.« Und dann sagte sie wie aus heiterem Himmel:

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