Winterträume
machte.
Gerade als sie hinunterschauten, wurde er mit der einen Seite seines Gesichtes fertig, worauf ein Diener vortrat, mit einer Schere den groben Bewuchs der anderen entfernte und damit das symmetrische Gesicht eines zwar etwas verhärmten, aber nicht unansehnlichen jungen Mannes vollständig freilegte. Er seifte die bärtige Seite ein, zog mit schnellen Bewegungen die Klinge darüber hinweg, massierte eine Flüssigkeit in die gesamte Hautfläche ein und überprüfte sodann sein Aussehen mit beträchtlicher Aufmerksamkeit im Spiegel. Der Anblick schien ihn zu befriedigen, denn er lächelte. Auf ein Wort hin überreichte ihm einer der Diener die Hose, mit der er darauf seine wohlproportionierten Beine verhüllte. Er ließ sich sein Hemd überstreifen, arrangierte den Kragen, band mit geübter Hand eine elegante, schwarze Schleife und schlüpfte in das bereitgehaltene Smokingjackett. Nach dieser Verwandlung, die vor ihren eigenen Augen stattgefunden hatte, staunten Tante Cal und Tante Jo unverhofft den makellosesten, gepflegtesten jungen Mann an, den sie je gesehen hatten.
»Walters!«, sagte er plötzlich, mit klarer, kultivierter Stimme.
Einer der weißgekleideten Seeleute trat vor und salutierte.
»Sie können die Boote zur Yacht hinausbringen. Sie müssten sie mit Hilfe des Nebelhorns problemlos finden können.«
»Jawohl, Sir.«
»Sobald der Nebel sich hebt, stechen Sie in See. Funken Sie inzwischen nach New York, dass mein Wagen heruntergeschickt wird. Er soll mich im Haus der Marsdens am Montauk Point abholen.«
Als der Matrose sich umdrehte, streifte der Lichtkegel seiner Taschenlampe zufällig die vier höchst verwunderten Gesichter, die auf die merkwürdige Szene hinunterstarrten.
»Sehen Sie da, Sir!«, rief er.
Die vier Lampen erfassten den Spähtrupp auf dem Kamm des Hügels.
»Hände hoch da unten!«, schrie Percy und richtete seine Flinte auf den grellen Lichtschein.
»Miss Marsden!«, rief der junge Mann lebhaft. »Ich wollte gerade zu Ihnen kommen.«
»Keine Bewegung!«, brüllte Percy; und dann zum Doktor: »Soll ich schießen?«
»Natürlich nicht!«, schrie Doktor Gallup. »Junger Mann, lautet Ihr Name so, wie ich vermute?«
Der junge Mann verbeugte sich höflich.
»Mein Name ist George Van Tyne.«
Wenige Minuten später schüttelten sich der tadellose junge Mann und zwei völlig fassungslose Damen die Hände. »Ich kann mich gar nicht oft genug bei Ihnen entschuldigen«, gestand er, »denn ich habe Sie beide der seltsamen Laune eines jungen Mädchens geopfert.«
»Was für eine Laune?«, fragte Tante Cal.
»Nun…«, er zögerte, »sehen Sie, mein ganzes Leben habe ich besonders viel Aufmerksamkeit auf die sogenannten Feinheiten des guten Benehmens verwandt, Feinheiten der Kleidung, der Manieren, des Stils…«
Er brach reumütig ab.
»Fahren Sie fort«, befahl Tante Cal.
»Genau wie Ihre Nichte. Sie hat sich selbst immer eher für ein Muster an… an Kultiviertheit gehalten« – er errötete –, »bis sie mich traf.«
»Ich verstehe.« Doktor Gallup nickte. »Sie konnte es nicht ertragen, jemanden zu heiraten, der ein noch größerer – sagen wir, ein Dandy? – war als sie selbst.«
»Richtig«, sagte George Van Tyne mit einer perfekten Verbeugung wie aus dem achtzehnten Jahrhundert. »Es war notwendig, ihr zu zeigen, was für ein… für eine…«
»…unsägliche Type«, half Tante Josephine.
»…was für eine unsägliche Type ich sein konnte. Es war schwierig, aber machbar. Denn wenn man weiß, was korrekt ist, muss man notwendigerweise auch wissen, was nicht korrekt ist; und ich hatte die Absicht, so fürchterlich unkorrekt zu sein wie irgend möglich. Ich hoffe nur, Sie werden mir eines Tages verzeihen können, dass ich Sie mit Sand beworfen habe… ich fürchte, da ist meine Rolle mit mir durchgegangen.«
Wenig später gingen sie alle gemeinsam zum Haus zurück.
»Aber ich kann noch immer nicht glauben, dass ein Gentleman so… so unsäglich sein kann«, stieß Tante Jo hervor. »Und was wird erst Fifi dazu sagen?«
»Nichts«, antwortete Van Tyne fröhlich. »Sehen Sie, Fifi wusste die ganze Zeit Bescheid. Sie hat mich sogar schon am allerersten Tag oben im Baum erkannt. Sie bat mich immer wieder, bis heute Nachmittag, damit… damit aufzuhören, aber ich habe mich geweigert, bis sie mich geküsst hat, trotz Bart und allem.«
Tante Cal blieb plötzlich stehen.
»Das ist ja alles gut und schön, junger Mann«, sagte sie streng, »aber da Sie so viele
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